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       # taz.de -- Debatte Antisemitismus: Die Empörung ist verzerrt
       
       > Die größte Gefahr für Juden in Deutschland geht nach wie vor von Neonazis
       > aus. Und nicht etwa von arabischen Jugendlichen.
       
   IMG Bild: Kippa–Flashmob gegen Antisemitismus am 9. März 2015 in Hannover.
       
       Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, hat zweifellos
       recht: In muslimischen Gegenden Berlins und andernorts sich als Jude
       erkennen zu geben, ist nicht ohne Risiko. Antijüdische Gewalttaten mögen
       zwar öffentlichkeitswirksame Einzelfälle sein, die publizistisch
       ausgeschlachtet werden, doch verbale Ausfälle, Beschimpfungen, feindselige
       Blicke gegenüber äußerlich erkennbaren Juden, Kippa–Trägern etwa, sind
       durchaus zu erwarten – so wie es auch muslimische Kopftuchträgerinnen
       täglich erfahren müssen.
       
       Antijüdisches Mobbing wird zudem auch von einigen Schulen in Berlin
       berichtet, und jüdische Schüler haben deshalb die Schule gewechselt. Bei
       all diesen antisemitischen Vorfällen ist dennoch bemerkenswert, dass
       ähnliche antimuslimische Gewaltakte, die Schändung von Moscheen etwa,
       keineswegs eine Empörung hervorgerufen haben, die mit der über die
       Schändung von Synagogen vergleichbar wäre. Die unterschiedlichen
       historischen Erfahrungen von Juden und Muslimen in Deutschland bieten
       hierfür nur eine teilweise Erklärung.
       
       Die antijüdischen Ausfälle haben als Nachhall mit dem Gazakrieg 2014, wie
       bereits nach dem Gazakrieg 2008/2009, stark zugenommen. Nach dem Ende der
       israelischen Bombardierungen und des Raketenbeschusses von Gaza auf
       israelisches Gebiet findet der Gazakrieg also mit anderen Mitteln auf
       europäischen Straßen statt.
       
       ## Die Gewalt der Neonazis
       
       Während nun dieser „muslimische“, vor allem unter mutmaßlich
       arabischstämmigen Jugendlichen entwickelte Antisemitismus zunächst vor
       allem aus antiisraelischen Motiven – Stichwort Siedlungsbau und Gaza –
       herrührt, hat sich, umgekehrt, der Antiisraelismus der Rechten und der
       Neonaziszene aus ihrem Antisemitismus entwickelt. Er ist deshalb anders
       geartet: Er ist gewalttätig.
       
       Neuere Studien zeigen, dass zumindest in Deutschland die weitaus größte
       Zahl der Gewalttaten gegen Juden, einschließlich auf Motorhauben
       eingeritzte Hakenkreuze, aus der rechten Szene kommt. Darüber hinaus haben,
       wie der Essayist Bernard Avishai unlängst schrieb, Besatzung und
       Siedlungsbau auch außerhalb antisemitischer Milieus die Stimmung zu Israel
       und jüdischen Institutionen heftig eingetrübt. Hier und andernorts ist es
       eben schwierig geworden, Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus
       klar voneinander zu trennen.
       
       Klar ist aber auch, dass die derzeitige israelische Politik diesen
       Antisemitismus multipliziert, denn zu der Zeit, als sich Rabin und Arafat
       die Hände gaben, war auch die Antisemitismusquote am Boden. In jedem Fall
       ist es inakzeptabel, Kritik an der derzeitigen Besatzungs– und
       Siedlungspolitik der israelischen Regierung als Antisemitismus zu
       verunglimpfen.
       
       ## Die Noch-nicht-Israelis
       
       Ob „muslimischer“ oder neonazistischer Judenhass: Tatsache ist, dass die
       europäisch–jüdische Diaspora zusehends nicht nur als integraler Teil
       Israels gesehen wird, sondern zumindest in bestimmten Segmenten sich zu
       einem integralen Teil einer israelischen globalen Gemeinschaft zu
       entwickeln beginnt. Hierbei droht der kulturell und politisch
       eigenständige, jahrhundertealte Charakter der Diaspora zu schwinden. Der
       World Jewish Congress, unter Nahum Goldmann eine wichtige jüdische Stimme
       außerhalb Israels, ist bedeutungslos geworden.
       
       Gleichzeitig werden Diaspora-Juden zu oft als Noch–nicht–Israelis
       definiert; eine Definition, die den Unterschied von Diaspora und
       israelischer Staatsbürgerschaft auszulöschen sucht. Zu Ignatz Bubis’ Zeiten
       war es in Deutschland noch ein Fauxpas, wenn nichtjüdische Deutsche Juden
       gegenüber als von „eurem Ministerpräsidenten Rabin“ sprachen. Heute, mit
       Netanjahu, ist jedoch die israelische Knesset das „Parlament aller Juden“,
       er selbst maßt sich an, für alle Juden zu sprechen, und nimmt so das
       Diaspora-Judentum als Geisel für seine Besatzungs– und Siedlungspolitik.
       Alle französischen und allgemein alle europäischen Juden gehören demnach
       angeblich nach Israel.
       
       ## Harter US-Antisemitismus
       
       Es ist geradezu eine Kampagne gegen die selbständige Existenz der Diaspora
       geworden. Mit einer Ausnahme freilich: Amerikanische Juden gehören
       weiterhin in die USA – wohl vor allem wegen der finanziellen Unterstützung
       Netanjahu–freundlicher Kongressabgeordneter durch konservative wohlhabende
       amerikanische Juden, die nicht daran denken, die USA zu verlassen und nach
       Israel zu ziehen. Dabei sind die USA weit davon entfernt, frei von
       Antisemitismus zu sein: Ähnlich wie in europäischen Ländern stellen
       Erhebungen einen Hardcore-Antisemitismus bei 15 bis 20 Prozent der
       Bevölkerung fest, hinzu kommen jährlich tausende antijüdischer
       Gewalttätigkeiten bis hin zu Morden.
       
       Dabei wird verblüffenderweise außer Acht gelassen, dass 9/11 nicht nur eine
       Attacke gegen die USA war, sondern auch gegen das „Finanzjudentum“. Diese
       Attacke war das schrecklichste antijüdische Verbrechen seit Kriegsende
       überhaupt. Aber das wird kaum zur Kenntnis genommen, denn in den USA sind
       Juden angeblich sicher. Kein israelischer Ministerpräsident oder anderer
       israelischer Politiker hat nach dem Fall der Twin Towers amerikanische
       Juden aufgefordert, nach Israel auszuwandern, wie Netanjahu dies nach Paris
       getan hat.
       
       Die Tatsache, dass in Europa jüdische Orte unter Polizeischutz stehen,
       heißt also noch lange nicht, dass jüdisches Leben nicht bedroht ist, wo
       dieser Polizeischutz fehlt oder nicht sichtbar ist (und stattdessen an die
       Homeland Security delegiert wird). Von der Gefahr für Leib und Leben in
       Israel ganz zu schweigen.
       
       Josef Schuster spricht sicherlich für viele Juden in der Diaspora, wenn er
       von Israel als unserer Lebensversicherung spricht. Wie sicher diese
       Lebensversicherung in einer Zeit wachsender politischer Isolierung Israels
       ist, ist aber eine andere Frage: Eine selbstverschuldete Isolation, man
       denke nur an Netanjahus Auftritt in Washington. Doch eine autonome jüdische
       Diaspora, die für kulturelle, soziale und politische Vielfalt steht, wäre
       ein Garant dafür, dass Juden in aller Welt von sich sagen könnten: Als
       jüdische Bürger eines anderen Landes unterstützen wir den Staat Israel,
       aber Netanjahu spricht nicht mit unserer Stimme.
       
       14 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michal Bodemann
       
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