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       # taz.de -- Polizeiliche Überwachung: Der Track des Lebens
       
       > Die europäische Technologie-Szene versammelt sich in Valencia. Eine
       > Aktivistin findet an ihrem Auto einen GPS-Tracker. Es ist, wieder, Lily.
       
   IMG Bild: Klein, billig, effektiv: der GPS-Tracker, der am Auto der Aktivistin gefunden wurde
       
       BERLIN taz | Alles liest sich wie eine kleine Meldung, ein Aufregerthema
       unter Aktivisten. Es ist Kryptoparty in Valencia, eine von der besonderen
       Sorte. Entwickler, Techniker, Hacker aus der ganzen Welt sind da. Und dann
       ist plötzlich auch dabei: ein kleines Gerät, eingeschlagen in schwarzes
       Klebeband, das in der Lage ist, stets seinen genauen Standort zu
       übermitteln. Der GPS-Sender findet sich am Auto einer Rednerin des
       Kongresses.
       
       Die Hacker sind in der Stadt und sie werden überwacht – in der spanischen
       Lokalpresse sorgt das umgehend für Reaktionen. Die Journalisten schildern
       den Fall. Doch was sie nicht wissen: Er hat bereits eine lange
       Vorgeschichte. Denn die betroffene Aktivistin ist nicht irgendwer. Es ist
       Lily, mal wieder. Die Überwachung hört einfach nicht auf.
       
       Lily ist ein Name, den diese Frau sich selbst ausgesucht hat. Die
       36-Jährige möchte in der Öffentlichkeit nicht unter ihrem echten Namen
       auftreten, denn ihre Geschichte hat einen ernsten Hintergrund: Zwei Jahre
       lang hatte Lily eine Beziehung mit dem verdeckten britischen Ermittler Mark
       Kennedy, der im Jahr 2010 spektakulär enttarnt wurde. Kennedy hatte zuvor
       jahrelang nach eigener Aussage [1][Polizeibehörden in 22 europäischen
       Ländern] zugearbeitet und war europaweit unter falscher Identität tätig, um
       Aktivistinnen und Aktivisten auf dem gesamten Kontinent auszuspähen. Mit
       Lily war der Beamte zwei Jahre liiert und einige weitere Jahre eng
       befreundet – dachte sie. In Wirklichkeit spionierte er auch sie aus. Über
       ihre Erfahrung mit diesem Menschenrechtsverstoß redete die Britin im
       [2][Januar 2015 erstmals ausführlich in der taz].
       
       Nur wenige Wochen später steht sie erneut im Fokus staatlicher Behörden.
       Diesmal ist es kein Mann, sondern ein Peilsender, der sie überwacht. GPS,
       einfache Bauart, billiges Gerät. Es ist mit reichlich Klebeband ummantelt,
       mit sechs Zusatzbatterien bestückt, damit die Funktionsfähigkeit nicht
       allzu rasch nachlässt. Es steckt eine spanische SIM-Karte im Slot. Und so
       klemmt dieses Überwachungsgerät vorne links verdeckt im Fahrwerksschacht
       des weißen Autos. Lily findet es am 4. März.
       
       Vieles deutet daraufhin, dass es die spanische Polizei war, die den
       Peilsender anbrachte. Denn, so schildert es Lily, es sei ihr damals schon
       seltsam vorgekommen: Es war Anfang Februar und sie kam gerade von einem
       Vortrag in Paris – Thema: Polizeiliche Überwachung in Europa – als sie auf
       der Rückfahrt an der spanischen Grenze angehalten worden war. Ein Polizist
       winkte sie raus, fragte nach ihrem Laptop und ließ sie eine Weile warten.
       Dann wurde sie vom Auto weggeführt. Was die Beamten in ihren Sachen suchten
       und mit ihrem Auto machten, sollte sie nicht sehen. Ein Polizist soll dabei
       noch gesagt haben: Er wisse auch nicht genau, was er hier mache und habe
       die Anweisung, noch auf seinen Chef zu warten. Dann irgendwann kam der
       Chef.
       
       ## Klagen, immer mehr Klagen
       
       Vier Wochen später, Anfang März, fährt Lily mit einigen anderen nach
       Valencia. Es ist das Treffen der Technik-Szene, [3][Circumvention Tech
       Festival], eine Konferenz, die in ganz Europa unter Hackern bekannt ist.
       Aus vielen europäischen Städten kommen Aktivisten. Im Vorfeld des Treffens
       gibt sich ein besonderes Entwicklerteam sein Stelldichein: Die
       Programmierer der Anonymisierungssoftware [4][TOR], die weltweit genutzt
       wird, um anonym im Netz zu surfen.
       
       Vielen staatlichen Überwachungsbehörden ist dieses Projekt ein Dorn im
       Auge. Auch Lily ist auf der anschließenden Konferenz als Gast geladen. Sie
       soll einen Vortrag halten. Inhalt wieder: Polizeiliche Überwachung in
       Europa. Sie soll von ihren Erfahrungen berichten und darüber wie es ist,
       jahrelang ausgespäht zu werden ohne je Antworten zu erhalten, Akteneinsicht
       oder auch nur einen Grund für ihre Beschattung. Seit Jahren kämpft sie vor
       britischen Gerichten gemeinsam mit anderen Frauen um Entschädigung und
       darum, überhaupt rechtliches Gehör zu finden.
       
       Kaum ist Lily also in diesen Tagen in Valencia angekommen, ist ihr Auto
       schon von Polizisten umstellt. Ausweiskontrolle. Jetzt wird sie
       misstrauisch. Zwei Tage später findet sie dann den Peilsender an ihrem
       Auto. Kabel hatten sich verschoben und lugten nun hinter der Radabdeckung
       hervor. [5][Seitdem kursieren Bilder im Netz, die den Fall dokumentieren].
       Der Kryptoexperte, Anti-Überwachungs-Aktivist und Journalist Jacob
       Appelbaum, der auch in Valencia ist, stellt die Bilder online und bittet um
       Hinweise.
       
       Lily hat inzwischen Klage vor einem Gericht in Valencia eingereicht. Sie
       will wissen, wer ihr diesmal auf den Fersen war und warum die spanische
       Polizei ihr Auto manipulierte. Spekulationen darüber anzustellen, ist
       müßig. Die Tatsache, dass mutmaßlich die spanische Polizei das Gerät
       einbaute und eine spanische SIM-Karte gefunden wurde – was sagt das? Wird
       Lily von spanischen Behörden beobachtet? Oder könnten europäische Ermittler
       in Spanien um Amtshilfe gebeten haben? Steht sie etwa noch immer im Fokus
       einer internationalen Überwachungsmaschine? Trotz allem? Oder sollte mit
       Lily auch gleich die technikaffine Gästeliste des Internet- und
       Kryptofestivals in Valencia ausgespäht werden?
       
       Lily zieht nun abermals vor Gericht. Nach Großbritannien beginnt nun in
       Spanien ein nächster langer Marsch. Es ist der Track eines Lebens,
       polizeiliche Überwachung, die einfach kein Ende nimmt. Ein wenig scheint
       es, als werde es mehr: Je mehr sie darüber redet, kritisiert, auf
       öffentlichen Veranstaltungen, desto mehr kommt es wieder. Als wäre es nicht
       langsam mal genug für ein Leben.
       
       9 Mar 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Enttarnter-Spitzel-Mark-Kennedy/!66152/
   DIR [2] /!152839/
   DIR [3] http://openitp.org/festival/circumvention-tech-festival.html
   DIR [4] http://www.torproject.org
   DIR [5] http://people.torproject.org/~ioerror/skunkworks/forensics/valencia-tracking-device/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Kaul
       
       ## TAGS
       
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