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       # taz.de -- Debatte Israel vor der Wahl: Netanjahus langer Schatten
       
       > Im derzeitigen Wahlkampf dominieren der Konflikt mit den Palästinensern
       > und Irans Atomprogramm. Innenpolitische Probleme werden ignoriert.
       
   IMG Bild: Fassade mit Netanjahu-Werbung im Großformat in Tel Aviv
       
       Viel Aufwand und ein hoher Preis für zwei Mandate Zugewinn – und auch das
       nur in den Prognosen zum Ausgang der bevorstehenden Parlamentswahlen in
       Israel: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu riskierte hierfür mit seiner
       Rede vor dem US-Kongress eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum
       Weißen Haus, Verärgerung unter den Demokraten im Kongress und unverhohlene
       Kritik amerikanischer Juden, die sich sonst nur sehr selten gegen einen
       israelischen Ministerpräsidenten stellen.
       
       Die scharfe Attacke Netanjahus gegen den Iran als einen Patron des
       weltweiten Terrorismus und einen Todfeind Israels brachten nicht das
       erhoffte Resultat. Präsident Obama hofft weiterhin, in den nächsten Wochen
       eine Vereinbarung mit dem Iran erreichen zu können. Und in Israel selbst
       hat der Auftritt Netanjahus im US-Kongress die Chancen auf einen Wahlsieg
       nicht merkbar verbessert. Eine knappe Woche vor dem Urnengang lagen der
       jetzt regierende Likud und die wichtigste Oppositionsliste „Zionistisches
       Lager“ gleichauf: Beiden wurden jeweils 23 der 120 Mandate im Parlament, in
       der Knesset, prognostiziert.
       
       Sollte es dabei bleiben, werden beide ihre Hoffnung begraben müssen, nach
       dem 17. März ohne Schwierigkeiten regieren zu können. Eine absolute
       Mehrheit hat es in keiner der bisher 19 Knesset-Wahlen gegeben. Immer waren
       Koalitionen erforderlich, und trotz der großen Fluktuation unter den
       Parteien kamen dabei immer „dieselben Verdächtigen“ in Frage. Vor allem die
       Religiösen, National-Religiösen und Orthodoxen spielten fast immer eine
       wichtige Rolle dabei, dem Wahlsieger zu einer regierungsfähigen Mehrheit zu
       verhelfen.
       
       Und es war meist egal, ob dieser Wahlsieger Sozialdemokrat war oder
       Nationalkonservativer: Hauptsache, der Preis stimmte. Und das hieß, die
       Klientel des religiösen Partners auf die eine oder andere Weise zu
       bedienen. Oft ging es um religiös gefärbte Gesetze oder finanzielle
       Vorteile, immer aber auch darum, nur ja nicht für eine Friedensregelung auf
       Teile des biblischen Landes Israel zu verzichten.
       
       Für die Arbeitspartei waren diese Parteien eine Bremse, für den Likud
       natürliche Verbündete, inzwischen freilich abgelöst durch weniger religiös,
       dafür aber nationalistischer geprägte Gruppen, die Netanjahu bisher zur
       Macht verholfen hatten und die als Partner des „Zionistischen Lagers“ nicht
       in Frage kommen – eines Zusammenschlusses der Arbeitspartei mit der kleinen
       „Bewegung“ der ehemaligen Außenministerin Zipi Livni.
       
       Ermutigt durch wachsende Kritik an Netanjahu beschloss das „Zionistische
       Lager“, bei einem Wahlsieg eine Rotation zwischen Livni und
       Arbeitsparteiführer Jitzhak Herzog an der Spitze der Regierung zu
       vereinbaren.
       
       ## Große Koalition möglich
       
       Angesichts der bisherigen Wahlprognosen wäre das wohl etwas zu früh
       geplant. Aber inzwischen spricht man von einer anderen Rotation: dem
       möglichen Wechsel zwischen Netanjahu und Herzog an der Spitze einer Großen
       Koalition. Solch eine Konstellation gab es wiederholt in der Geschichte
       Israels. Meist wurde sie begründet mit der „allgemeinen Lage“ und
       anstehenden Entscheidungen, die eine Regierung der „nationalen Einheit“
       erforderlich machen.
       
       Überzeugend war diese Rechtfertigung nie, heute aber würde sie erst recht
       nicht ziehen. Denn Netanjahu hat sich bisher erfolgreich vor allen
       Entscheidungen in der Kernfrage des Nahostkonflikts gedrückt, so dass
       darüber sogar die eher symbolischen als ergiebigen Friedensverhandlungen
       ausgesetzt wurden und nun auch noch die Sicherheitskooperation zwischen
       Israel und der Palästinensischen Autonomie unter Mahmud Abbas gefährdet
       ist. Jitzhak Herzog hatte zwar nach seiner Wahl zum Führer der
       Arbeitspartei Abbas seine Aufwartung gemacht, Pläne für eine
       Friedensregelung hat er aber keine. Und die würden schon von seiner
       Partnerin Livni gestoppt, die politisch vom Likud stammt und damit alles
       andere als linksliberal ist.
       
       Dasselbe gilt für das Thema Iran, das Netanjahu vor den Kongress zerrte und
       zu einem Rundumschlag nutzte. Im Großen und Ganzen herrscht Konsensus in
       der israelischen Öffentlichkeit und Politik über die vermeintliche Gefahr
       des Iran und ist man sich einig, dass Teheran Atomwaffen anstrebe und
       Israel nicht nur in Sonntagsreden der iranischen Führung mit Zerstörung
       bedrohe.
       
       ## Intimfeind Iran
       
       Diese Einschätzung geht so weit, dass manche Israelis sich bereits
       Saudi-Arabien und anderen arabischen Staaten am Persischen Golf verbunden
       fühlen und dabei ignorieren, dass manche von ihnen zumindest bis vor Kurzem
       noch radikale Israel-Gegner unterstützt hatten. So mokieren sie sich über
       die Zusicherung von US-Außenminister Kerry gegenüber den arabischen
       Golfstaaten, Washington werde diese mit einem „Atomschirm“ vor möglichen
       Gefahren aus dem Iran schützen: Also habe man doch recht, wenn Kerry selbst
       von solchen Gefahren spreche?
       
       Der Konflikt mit den Palästinensern und der mit Iran beherrschen die
       politische Agenda in Israel. Als gebe es nicht genug innenpolitische,
       wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme. Wachsende Wohnungspreise
       und -mieten, Arbeitslosigkeit und steigende Lebenshaltungskosten waren
       schon wiederholt Auslöser breiter Proteste und Demonstrationen. Wenn Wahlen
       näher rücken, scheint man aber regelmäßig zu vergessen, dass doch in erster
       Linie die jeweils amtierende Regierung verantwortlich für die Missstände
       ist, und der Wähler lässt sich beeindrucken durch Slogans von Sicherheit,
       Terrorismus, Krieg und Frieden. Dinge, die leicht über die Lippen gehen,
       für die aber keiner in der israelischen Politik wirklich Lösungsrezepte
       anzubieten hätte.
       
       Trotzdem ist die Überzeugung in Israel weit verbreitet, dass man selbst am
       besten wisse, was gut für das Land und die Region ist. Und dass das Ausland
       einen doch bitte verschone mit Ratschlägen oder Plänen. Sogar die
       Amerikaner, vor allem aber die Europäer. So, als hätte Israel im Laufe der
       Jahrzehnte nicht bewiesen, dass es weder fähig noch willens ist, seine
       Probleme zu lösen. Daran wird sich vermutlich auch mit den kommenden Wahlen
       nichts ändern.
       
       10 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Philipp
       
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