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       # taz.de -- Die Wahrheit: Simkartelabim
       
       > Wieder ein Spionageskandal. Die Geheimdienste haben überraschenderweise
       > Zugriff auf sämtliche Mobiltelefone. Und plötzlich kommt die stille Post
       > zurück.
       
       Dieser Schock trifft die Welt unvorbereitet. Die NSA und ihr britischer
       Partner haben sich beim weltweit größten SIM-Karten-Hersteller Zugang zu
       den Verschlüsselungskeys unserer Handys verschafft. Der Vorteil: Wenn man
       wieder mal seine PIN vergessen hat, weiß man, wo man schnell und
       unbürokratisch nachfragen kann. Der Nachteil: Seit dem Jahr 2010 können die
       Dienste problemlos all unsere Telefonate abhören, sämtliche SMS lesen und
       diese Kommunikation selbstredend auch manipulieren.
       
       Die Empörung deswegen ist groß. Zwar hatte es in letzter Zeit Berichte
       gegeben, dass die Spione gelegentlich ihre Kompetenzen überschreiten. Doch
       niemand hätte vermutet, dass sie an unsere ganz persönlichen Smartphones
       gehen und damit ein jahrhundertealtes Tabu brechen. Anderer Leut
       Telefongespräche zu belauschen, gilt in unserer Kultur als verwerflich,
       wenn es nicht in der überfüllten U-Bahn oder im Wartezimmer des Hautarztes
       geschieht.
       
       Zum ersten Mal seit Beginn der Enthüllungslawine aus dem Hause Snowden
       formiert sich deshalb offener Widerstand gegen die Umtriebe der
       Geheimdienste. „Wir wussten seit einer Weile, dass sie das Internet
       kontrollieren. Aber wer benutzt schon Internet?“, fragt Nadine Mustermann
       (19) zornig. „Wir wussten auch, dass sie einzelne Netzanbieter angezapft
       haben, zum Beispiel Vodafone, und auch das Handy der Kanzlerin. Doch jetzt
       wissen wir, dass sie unterschiedslos alle Mobiltelefone knacken, all unsere
       Gespräche belauschen können, selbst die vertraulichsten mit meiner
       allerbesten Freundin!“
       
       Weil sie ihre intimsten Geheimnisse in Gefahr sehen, haben die beiden
       Abiturientinnen aus Bad Münstereifel eine Gruppe gegen die
       Telefonüberwachung gegründet. Der Gesprächskreis „Stille Post“ trifft sich
       jeden Tag nach der Schule in der Fußgängerzone. Striktes Prinzip der
       mittlerweile neun jungen Aktivistinnen ist es, die Handys zu Hause zu
       lassen und sich sämtliche privaten Informationen nur noch reihum direkt ins
       Ohr zu tuscheln.
       
       „Vielen von uns fällt das natürlich schwer“, gibt Nadine freimütig zu.
       „Unsere Generation telefoniert ja praktisch rund um die Uhr. Die meisten
       legen ihr Smartphone selbst im Bett nicht aus der Hand, reden im Schlaf
       einfach immer weiter.“
       
       Umfragen in der Jahrgangsstufe stützen diese Einschätzung: Die
       durchschnittliche Mobiltelefonnutzerin kommt netto auf etwa achteinhalb
       Stunden Gesprächszeit am Tag, weitere zwei Stunden starrt sie auf das
       Display und hofft, dass jemand anruft und ihr ein Geheimnis anvertraut.
       
       Um so wütender sind Nadine und ihre Freundinnen nun. Sie fühlen sich von
       der Politik im Stich gelassen. „Gerade wir jungen Leute sind durch diese
       Angriffe besonders verwundbar“, zürnt Nadines beste Freundin Karina.
       „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass fast 70 Prozent von allem, was
       wir täglich zusammentelefonieren, Geheimnisse enthält. Oder wenigstens
       Spuren von Geheimnissen, die auf keinen Fall weitergegeben werden dürfen.
       Wenn die Dienste das alles mithören können, haben sie uns in der Hand. Jede
       einzelne von uns!“
       
       Das Argument, dass die meisten ihrer Informationen für die Spione nicht
       brisant genug seien, mag Karina nicht gelten lassen. „Wir reden ja nicht
       nur schnöde über Schminktips, Klamotten und Komapartys, über Eltern,
       Arztbesuche und Drogenprobleme, sondern auch: Wer mit wem? Wo? Wann? Und in
       welcher Stellung!" Und Nadine fügt mit roten Ohren hinzu: "Das ist doch
       extrem heikel, gerade wenn Lehrer mit im Spiel sind!“
       
       Solche persönlichen Daten, da sind sich die Mädchen einig, müssen auf jeden
       Fall vor dem Zugriff der Nachrichtendienste geschützt werden. „Der freie
       Fluss von Informationen ist für Demokratien konstitutiv, das haben wir in
       Sozialkunde gelernt“, sagt Karina stolz. „Es darf nicht sein, dass man
       irgendwas für sich behält, nur weil man Angst hat, belauscht zu werden.“
       
       Doch selbst bei ihrer abhörsicheren Stillen Post bleibt Vorsicht
       unerlässlich. So musste die dicke Lisa aus dem Flüsterkreis rausgemobbt
       werden. In ihren Erzählungen hatte sich das einvernehmliche Schmusen einer
       Mitschülerin mit einem namenlosen Bio-Referendar plötzlich in eine wilde
       Orgie mit dem stellvertretenden Schulleiter verwandelt. Vermutlich
       spionierte sie für den BND oder sogar die Elternpflegschaft.
       
       „Wir haben Lisa ordentlich in den Schwitzkasten genommen“, lacht Nadine,
       „und ihr klargemacht, dass alle Welt von ihrem missglückten Pettingversuch
       mit dem pickligen André erfährt, wenn auch nur ein Wort aus unserer Runde
       nach außen dringt.“
       
       ## Unbescholtene Teenies
       
       Genauso, finden Nadine und Karina, müssten die Politiker die Geheimdienste
       mal in den Schwitzkasten nehmen und ihnen verbieten, die Handys
       unbescholtener Teenies abzuhören. Für ein ermutigendes Zeichen halten die
       beiden es deshalb, dass sich die Ortsgruppe einer richtigen Partei nach
       ihrem Club erkundigt haben soll. Über Umwege erfuhren die Mädchen, dass
       sogar ein verdecktes Treffen in der Fußgängerzone geplant ist. Die konkrete
       Kontaktaufnahme scheiterte bislang freilich an den ausgeschalteten
       Mobiltelefonen.
       
       „Nur soviel: Es handelt sich wohl um eine ziemlich linke Partei“, sagt
       Nadine nebulös. „Aber im Moment können wir jeden Verbündeten gebrauchen,
       gerade wenn er über effektive Desinformationstechniken verfügt und sich gut
       mit Stasimethoden auskennt.“
       
       Die größte Gefahr sehen die Aktivistinnen nämlich darin, dass die Menschen
       sich an die ewige Überwachung sowie die unbefugte Weitergabe von
       vertraulichen Gerüchten gewöhnen und dadurch abgestumpft, zynisch und
       anfällig gegenüber Verschwörungstheorien werden. „Im Kampf gegen Pegida
       haben wir doch alle gemeinsam herausgestrichen, wie gut unser Staatswesen
       ist und wie unsinnig die Annahme, dass es geheime Instanzen gibt, die alles
       steuern und lenken!“ betont Karina. „Ich habe Angst, dass diese Sache dem
       Ruf unserer Demokratie im Ausland schadet und dass Wladimir Putin das für
       seine Zwecke ausnutzt.“
       
       Auch Nadine sieht für die Zukunft schwarz, wenn jetzt nicht mehr Menschen
       auf die Barrikaden gehen: „Wir sind doch letztlich alle erpressbar“, seufzt
       sie niedergeschlagen. „Ich kann mich gleich umbringen, wenn rauskommt, was
       ich Karina gestern über Hanna und Liv in der Sportumkleide erzählt habe.
       Oder auch die Lästerei über Nicos angeblichen Riesenpenis!“
       
       Mit Handyboykott und Gesprächskreis haben die jungen Frauen aus Bad
       Münstereifel diese Gefahr fürs erste gebannt. Wie lange sie diesen Kraftakt
       durchhalten können, steht jedoch in den Sternen. „Wir müssen stark bleiben
       und viele Leute von der Stillen Post überzeugen“, lächelt Nadine tapfer.
       „Irgendwann werden die Geheimdienste schon aufgeben! Oder die Politiker
       sehen endlich ein, dass sie etwas tun müssen gegen diese unsichtbaren
       Instanzen, die alles steuern und lenken.“ Und ihre beste Freundin Karina
       ergänzt flüsternd: „Dein Wort in Gottes Ohr. Denn wenn sich die Menschen
       das gefallen lassen, dann lassen sie sich womöglich alles gefallen.“
       
       6 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mark-Stefan Tietze
       
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