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       # taz.de -- Interview mit russischer Aktivistin: „Die meisten sind verängstigt“
       
       > Olga Romanowa war eine enge Freundin des ermordeten Putin-Kritikers
       > Nemzow. Im vor dem Attentat geführten Interview ist sie wenig
       > optimistisch.
       
   IMG Bild: Verhaftung des Putin-Kritikers Boris Nemzow bei einer Demonstration in Moskau 2010.
       
       taz: Alexei Nawalny hat für Sonntag zum „Frühlingsmarsch gegen die Krise“
       aufgerufen. Er selbst sitzt wieder in Haft und wird nicht teilnehmen.
       Außerdem verbannten die Behörden die Demonstration an den Stadtrand. Kann
       dieser erste Protest nach Monaten etwas ausrichten? 
       
       Olga Romanowa: Ich bin gegen den Marsch, weil diese Art des Protestes nicht
       in die Zeit passt. Wir müssen uns andere Formen überlegen, die weniger
       gefährlich und trotzdem wirksam sind.
       
       Was könnte das sein? 
       
       Die Opposition sollte dazu aufrufen, ein halbes Jahr keinen Wodka, keine
       Zigaretten oder Benzin zu kaufen. Oder ein paar Monate Strom und
       Nebenkosten nicht zu bezahlen. Das sind wichtige Einnahmen. Die Machthaber
       wären schnell gesprächsbereit. Das ist ja nichts Neues. Martin Luther King
       und Gandi haben es vorexerziert.
       
       Gehen Sie nicht zum Marsch? 
       
       Ich bleibe im Büro und mache Notdienst, falls jemand verhaftet wird. Wir
       haben uns deswegen aber nicht zerstritten. Um mal wieder Lenin zu zitieren:
       Es liegt keine „revolutionäre Situation“ vor. Auch wenn jemand in Zürich
       sitzt und sich für Iljitsch (Lenin) hält. Die Geschichte wiederholt sich
       nur als Farce.
       
       Denken Sie da an Michail Chodorkowski? 
       
       ...
       
       Fürchten Sie, dass es zu Massenverhaftungen kommt wie im Mai 2012 vor
       Putins dritter Amtseinführung? 
       
       Die meisten sind verängstigt, das kann man keinem übelnehmen. Mir sagte
       gerade jemand, er habe früher demonstriert, Geld gespendet und sei dann zum
       Verhör einbestellt worden. Seither habe er um seine Familie Angst. Auf
       Wodka könne er aber verzichten.
       
       Halten Sie soziale Proteste für möglich, wenn die Lage noch schwieriger
       wird? 
       
       Am Sonntag ist es noch kein Marsch der leeren Kochtöpfe. Der folgt später.
       Darauf müssen wir vorbereitet sein. Die marginalisierten Schichten und
       Lumpenproletarier werden nicht gegen Putin, sondern gegen die USA und
       Deutschland demonstrieren. Ihr Hass wird sich gegen uns „Helfershelfer des
       State Department“ richten.
       
       Was passiert dann? 
       
       In fünf Jahren haben wir ein anderes Land, vermutlich eines, wo diese
       marginalisierten Schichten den Ton angeben. Gewinner wird der Typ Arbeiter
       der Panzer- und Waggonfabrik „Uralwagonsawod“ sein, der Putin ja schon nach
       den Protesten 2012 anbot, nach Moskau zu kommen und die Hauptstadt mal
       richtig aufzumischen. Dieser Schlag übernimmt die Macht, lässt sich
       volllaufen, ballert erst mal in alle Richtungen, bis dann eine Zeit der
       Wirren anbricht. Die Macht fällt dann dem zu, der gerade unterm Baum liegt,
       sei es der Nationalist Dmitri Rogosin, Verteidigungsminister Schoigu oder
       auch Alexei Nawalny.
       
       Und wenn es zu einer Palastrevolution käme… 
       
       … oder unser Oberst unerwartet stürbe und Neuwahlen angesetzt würden, dann
       wählt die Mehrheit der Russen auf jeden Fall einen Hardliner aus Putins
       direktem Umfeld: Igor Setschin von Rosneft oder den Leiter der
       Kremladministration, Sergej Iwanow. Aber auch die Tage eines jeden
       Nachfolgers sind gezählt. Die finanziellen Rücklagen reichen gerade mal für
       anderthalb Jahre. Bleibt nur zu hoffen, dass es mit dem Atomköfferchen so
       ist wie mit allem anderen bei uns: längst kaputt, nur hat es niemand
       bemerkt.
       
       Ein apokalyptisches Szenario ohne jeglichen Ausweg? 
       
       Alles hängt von der Entwicklung in der Ukraine ab. Verliert sie, haben auch
       wir keine Chance. Gelingt ihr wenigstens etwas: Kann sie den Krieg
       anhalten, der EU näher rücken, den Wirtschaftsbankrott abwenden oder die
       Korruption bekämpfen, haben auch wir noch den Hauch einer Chance. Ich rufe
       den Westen daher auf, der Ukraine zu helfen. Dort entscheidet sich das
       Schicksal Russlands, Europas, am Ende das der ganzen Welt. Wir sprechen von
       Diktatur und einer endgültigen Zerlegung des internationalen Rechtsgefüges.
       Wenn die Ukraine das nicht abwehrt, weiß ich nicht, wie es weitergehen
       soll.
       
       Ist Russland überhaupt noch für die Außenwelt empfänglich? 
       
       Nein, es hört das Klopfen nicht mehr. Wir leben in einem Kokon wie eine
       Seidenraupe und schlafen langsam ein. Was schlüpft, ob Schmetterling oder
       Drachen, hängt von der Umgebung und der Ukraine ab. Uns mit Nadeln zu
       malträtieren oder mit Zucker zu füttern, macht keinen Sinn mehr. Wir wissen
       selbst nicht, was in uns steckt.
       
       Begreift die herrschende Elite, wie verfahren die Lage inzwischen ist? 
       
       Selbst der ungebildetste Teil der Elite hat einen Sinn für Realität. Nicht
       zufällig meinte ein Minister neulich im alternativen Kanal „doschd“: Wir
       werden bis zur letzten Patrone das Feuer erwidern. Es steht schlecht um
       unser Volk, es ist krank. Leider gibt es nur ein Mittel zur Genesung: eine
       schwere Niederlage. Wir müssen gezwungen sein, uns mit den ewig
       wiederkehrenden Abgründen auseinanderzusetzen - wie Deutschland nach dem
       Krieg.
       
       Sollte der Westen der Ukraine Waffen liefern? 
       
       Nein, davor habe ich Angst. Er sollte Geld, Wissen und Experten aus allen
       Bereichen zur Verfügung stellen. Die Ukraine braucht das, weil sie die
       eigenen Kräfte für anderes verausgaben musste.
       
       Machen die Sanktionen eigentlich Sinn? 
       
       Die Sanktionen schaden auch unserer NGO dem „Einsitzenden Russland“, ich
       verstehe aber, dass es keine Alternative gibt. Trotzdem kann ich nicht dazu
       aufrufen, die Sanktionen noch zu verschärfen. Denn sie treffen vor allem
       die kleinen und mittleren Betriebe. Privatinitiative geht zugrunde. Putin
       fing damit an, die Sanktionen erledigen den Rest.
       
       Was schlagen Sie vor? 
       
       Die Sanktionen stärker zu personifizieren und das Geld der Leute um Putin
       zu suchen. Wie es die Amerikaner machen.
       
       28 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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