URI: 
       # taz.de -- Debatte „Neue Geopolitik“: Eingeströmt in die Ukraine
       
       > Politikwissenschaftler Herfried Münkler müht sich, eine leichte Form von
       > Geopolitik wiederzubleben. Dabei hat die Theorie ein krudes Fundament.
       
   IMG Bild: Ist die Ukraine-Krise der Ausgang „geopolitischer Naivität“?
       
       In den Sozialwissenschaften gehören Wiederbelebungsversuche von Theorien,
       die sich als unhaltbar erwiesen haben, zum Alltag. Jüngst unternimmt der
       Politikwissenschaftler Herfried Münkler einen solchen Revisionsversuch in
       der Zeitschrift Tumult (Winter 2014/15) im Zusammenhang der aktuellen
       Entwicklungen in der Ukraine. Und zwar unter dem Titel „Vom Nutzen und
       Nachteil geopolitischen Denkens“. Münkler gehört zu den wenigen, die von
       den Medien regelmäßig befragt werden.
       
       Die Theorie der Geopolitik in Deutschland prägten um 1900 Friedrich Ratzel
       (1844–1904) und Karl Ernst Haushofer (1869–1946). Sie verstanden unter
       „Geopolitik eine von den Zwängen der Geografie geforderte Politik“. So galt
       ihnen etwa das Meer „als Quelle der Völkergröße“. Im wilhelminischen
       Deutschland versetzten solche Thesen viele Universitätsprofessoren in einen
       regelrechten Flottenrausch. Man nannte sie deshalb „Flottenprofessoren“.
       
       In der Wissenschaftstheorie heißen Kurzschlüsse von der Natur auf die
       Politik naturalistische Fehlschlüsse. Man lehnt es ab, aus objektiven
       Beschreibungen der Welt politisch-moralische Normen abzuleiten. Denn: Aus
       der Tatsache, dass ein Staat ans Meer grenzt, folgt nicht, dass er mit
       U-Booten Kriege führen soll.
       
       Auch Münkler plädiert nur für eine weichgespülte Variante unter der
       Etikette „geopolitisches Denken“. Dieses Denken sollte „nur“ noch lehren,
       „Aspekte der Geopolitik“ zu berücksichtigen bei der Bestimmung politischer
       Ziele und Interessenlagen, ohne dabei direkt Handlungsnormen abzuleiten. In
       seiner Version diktieren geografische Konstellationen keine „Gesetze“ mehr,
       sondern nur Banalitäten.
       
       ## Kein Meer verlangt eine Flotte
       
       Mit seinem Rettungsversuch möchte Münkler das intellektuelle Fundament der
       „Geopolitik“, deren rabiate Variante auf reiner Scharlatanerie beruht, mit
       pflegeleichten Binsenwahrheiten planieren und verbal aufpolieren. Damit
       landet er geradewegs auf dem Argumentationsniveau des Pariser Professors
       Pierre Béhar. Diesem zufolge sind „geopolitische Fakten zweifacher Natur.
       Einige sind zwingend“, andere „nur richtungsweisend“. Weder Münkler noch
       Béhar nennen Kriterien, mit denen die beiden Sorten von Fakten abgegrenzt
       werden könnten. Das ist kein Zufall, denn beide Faktensorten beruhen auf
       Spekulationen und Scheinplausibilitäten.
       
       Das beginnt schon mit Münklers Entstehungslegende der „neuen“ Geopolitik.
       Der Zerfall der Sowjetunion und ihres Bündnissystems zwischen 1989 und 1991
       soll, so Münkler, den Deutschen „ein Denken in geopolitischen Kategorien“
       wieder nahegebracht haben, weil jener Zerfall die erweiterte BRD in die
       „europäische Mitte“ und „die Geopolitik“ auf „die politische Agenda der
       Deutschen und der Europäer“ hochgespült habe. Das ist nur ein
       geschichtsphilosophischer Traum, wonach die geografische Verschiebung eine
       automatische Machtverschiebung nach sich gezogen habe. Das Gegenteil ist
       richtig: Die immensen Transferleistungen in die ehemalige DDR haben die
       deutsche Wirtschaft zunächst geschwächt.
       
       Dass sich Deutsche und Europäer nach 1945 vom geopolitisch-imperial
       stimulierten Hokuspokus mit den handlichen Begriffsklötzen „Land“ „Meer“,
       „Raum“, „Einkreisungs- und Niedergangsangst“ verabschiedet und ihre Politik
       und ihr politisches Handeln auf dem rational begründbaren Fundament von
       Völkerrecht, Interessenpolitik und kooperativem Interessenausgleich
       errichtet haben, ist für Münkler eine suspekte Idee und keine
       zivilisatorische Leistung.
       
       Er bestreitet, dass die USA mit ihrem anachronistischen Festhalten an
       kruden geopolitischen Dogmen, etwa dem über die „Beherrschung der
       Küstenregionen der Weltmeere“ im Pazifik und am Atlantik, teuer bezahlt
       haben. Sie „mussten“ diesen Irrsinn mit völkerrechtswidrigen Kriegen in
       Korea, Vietnam und im Irak sowie mit anderen militärischen „Interventionen“
       durchsetzen. Deutsche und Europäer dagegen stellten ihre Politik nach 1945
       auf Völkerrecht und Interessenausgleich um und distanzierten sich von der
       akademisch drapierten Ptolemäer-Logik mit dem Namen „Geopolitik“, die der
       Berliner Professor nun rehabilitieren möchte.
       
       ## EU verschärft Konflikt
       
       Münkler meint, es sei „geopolitische Naivität“ gewesen, die die EU dazu
       verleitet hätte, die Ukraine vor das Ultimatum zu stellen: entweder das
       Assoziierungsabkommen mit uns oder die Zollunion mit Russland. Umgekehrt
       wird der Satz richtig: Nicht „geopolitische Naivität“, sondern die Grobheit
       seitens der EU, Russland nicht als gleichberechtigten Verhandlungspartner
       anzuerkennen und entsprechend mit ihm zu verhandeln – und nicht wie mit
       einer „Regionalmacht“ (Obama) oder mit „Island“ (Fritz Pleitgen) –, spielte
       Putin erst den Hebel in die Hand, den Konflikt um die Ukraine zu
       verschärfen. Die EU handelte nicht „geopolitisch“ naiv, sondern blähte sich
       „geopolitisch“ auf wie die amerikanische Rechte.
       
       Nur noch Nebulöses enthält Münklers Plädoyer für „geopolitisches Denken im
       21. Jahrhundert“ bereit. Methodisch beruht sein Vorgehen auf einem
       Taschenspielertrick. Er verpackt seine Variante der „Geopolitik“ neu und
       kostümiert sie um von der Kontrolle über Land/Meer zur „Kontrolle des
       Fließenden und Strömenden gegenüber der des Festen und Starren“. Eine
       hastige Improvisation, die von der Metapher lebt, dass man von Waren-,
       Kapital-, Menschen- und Informationsströmen spricht.
       
       Aber verlieren diese Bewegungen durch die sprachliche Metaphorisierung zu
       „Strömen“ auch nur ein Gramm ihrer Materialität, selbst wenn sich ihr
       Transport von A nach B, wie im Fall von Kapital und Informationen,
       elektronisch vollzieht? Der „Fortschritt“ solcher Revisionen besteht in der
       Beschleunigung der Demontage wissenschaftlicher Standards zu geopolitischem
       Leitartikelgedünst und -geraune. Als Zugabe fällt den „Deutschen als Macht
       in der Mitte Europas“ das bizarr totalisierende Mandat zu, „Süd- und
       Mitteleuropa, aber auch West- und Osteuropa zusammenzuhalten“.
       
       Unter Kohl kam es zur „konservativen Tendenzwende“ und zur „Renaissance der
       Geopolitik“ (H. U. Wehler). Münkler ist der Prophet des „Fließenden und
       Strömenden“ im geopolitischen Nachhutgefecht.
       
       27 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Walther
       
       ## TAGS
       
   DIR Geopolitik
   DIR Russland
   DIR Ukraine
   DIR Herfried Münkler
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA