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       # taz.de -- Migrantenviertel in Paris: Bloß nicht hinsehen
       
       > Das Pariser Einwandererquartier La Goutte d’Or ist von „Fox News“ zur
       > „No-go-Area“ für Nichtmuslime erklärt worden. Was ist da dran? Ein
       > Besuch.
       
   IMG Bild: Teilweise gefürchtet und zugleich streng bewacht: Paris.
       
       „No Camera!“, ruft eine große Dame auf dem afrikanischen Markt von La
       Goutte d’Or einigen Touristen zu. Es soll gefährlich sein in diesem
       Viertel. Die Frau mit der gelben Toga und gleichfarbigem Kopftuch steht in
       der Rue Poulet, gleich neben der Metrostation Château Rouge. Es riecht nach
       Fisch und heißen Maronen. Die Straßenhändler verkaufen dort illegal
       gefälschte Taschen. Auch Safou gibt es, eine schnell verderbliche
       afrikanische Pflaumensorte, die legal nicht zu bekommen ist, auch
       geschmuggelte Zigaretten und Drogen.
       
       An der Straßenecke stehen zwei Soldaten mit Maschinenpistolen. Sie
       bewachen, was laut Fox-News eine „No-go-Area“ ist.
       
       Kurz nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo hatte der
       amerikanische Fernsehsender behauptet, in Paris gebe es solche Orte für
       Nichtmuslime, Orte in denen eine Atmosphäre herrsche wie im Irak oder in
       Afghanistan – die also zu gefährlich für sie seien. Fox News zeigte eine
       Karte von Paris mit den angeblichen No-go-Zonen – darunter beliebte
       Gegenden wie Belleville oder der Boulevard Magenta. Die Pariser
       Bürgermeisterin Anne Hidalgo erwägt, den Sender wegen Imageschädigung zu
       verklagen – zu guter Letzt entschuldigt sich Fox News.
       
       Fakt ist: Diese Straßen stehen auf einer offiziellen Liste. Nur handelt es
       sich dabei nicht um „No-go-Zones“, sondern um soziale Brennpunkte in Paris,
       aber auch in Lyon, Lille oder Marseille. Sie heißen „zone urbaine
       sensible“, „zone d’éducation prioritaire“ oder „zone prioritaire de
       sécurité“ – Bezeichnungen, die einen höheren Finanzbedarf für Bildung und
       Sicherheit anzeigen sollen. Mit der Wirtschaftskrise sind die Budgets
       jedoch geschrumpft, viele Projekte wurden nie verwirklicht.
       
       ## Die Polizei fühlt sich unsicher
       
       Auch Grigny steht auf der Liste, der Ort, aus dem Amédy Coulibaly stammt,
       der Attentäter, der einen Tag nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo vier
       Menschen in einem koscheren Supermarkt tötete. Auf der Liste stehen
       Gegenden, die selbst die Polizei lieber meide – das räumt ein Pariser
       Polizist ein, der nicht genannt werden möchte. „Wir haben nicht einmal
       ausreichend dicke Schutzkleidung“, sagt er. Diese Viertel als „No-go-Zone“
       zu bezeichnen hält er aber für Unsinn.
       
       Das Rathaus des 18. Arrondissements liegt nur einen Katzensprung von
       besagtem Quartier entfernt. Hier ist es ganz ruhig. Der Kellner im
       Restaurant an der Ecke ist erstaunt über die Frage nach einer „No-go-Zone“.
       „Hier? Nee“, sagt er. „Ein paar Straßen weiter vielleicht, da, wo ich
       wohne, da kracht’s manchmal, aber selbst das ist nicht die Bronx.“ Ähnlich
       reagieren auch andere Anwohner. In Paris fielen ihnen keine „No-go-Zonen“
       ein.
       
       Sandrine Mées ist eine grüne Abgeordnete im Stadtrat des 18.
       Arrondissements, in dem auch Montmartre liegt. Sie wuchs in Paris auf und
       ist seit 2008 für La Goutte d’Or zuständig. Die sozialen Brennpunkte kennt
       sie gut. Ihre Wohnung befindet sich gleich neben Château Rouge, in einer
       Straße von „Klein-Afrika“.
       
       Die Meldung von Fox News hat Mées nicht überrascht. „Die kennen ja unser
       Quartier nicht“, sagt sie. Was die Einwohner hier beschäftige, sei aber
       eben nicht der Terrorismus, sondern der illegale Handel. Und gefährlich
       werde es auf der Straße dadurch nicht. Die Politikerin ist resigniert – sie
       ist kein hohes Tier, deswegen redet sie so ehrlich. Auch sie beklagt, die
       Polizei habe keine ausreichenden Mittel zur Bekämpfung des illegalen
       Handels. Wahrscheinlich wissen das auch ihre Vorgesetzten. Aber es ist
       nicht prestigeträchtig, sich um die „sensiblen“ Gegenden zu kümmern. Die
       Polizei findet sich notgedrungen damit ab. Es fehlt der politische Wille.
       
       ## Die Kunden sollen sicher sein
       
       Und auch Mées ist sich sicher: Selbst die illegalen Netzwerke machen die
       Gegenden nicht zu „No-go-Areas“. Im Gegenteil. „Auch die illegalen Händler
       wollen, dass sich die Kunden sicher fühlen“, sagt die Politikerin. Alles
       sei streng an bestimmte Orte gebunden, erklärt sie. Die Netzwerke
       regulieren sich selbst: Fast jeder Hauseingang habe seine Spezialität. „Du
       kannst in der Rue Poulet nicht die gleiche Droge kaufen wie in der Rue
       Myrha. Zwei Straßen weiter siehst du gar nichts mehr davon.“
       
       Die Chefs sind teilweise bekannt, in einem Straßenzug herrscht etwa „Madame
       Obama“. Wer hier verkaufen will, muss das mit ihr abklären“, sagt Sandrine
       Mées. Ein zwielichtiges Pflaster sind einige Straßenzüge wohl, die Fox News
       auflistet. Touristen und Nichtmuslime, die sich nicht einmischen, haben
       dort aber laut der Politikerin nichts zu befürchten.
       
       Mehr noch: Die Polizei bevorzuge diese „örtliche Festlegung“ des illegalen
       Handels, erklärt sie. Die Autoritäten hätten weder Mittel noch Lust, die
       Handelsnetze aufzulösen. „Manchmal schnappen sie ein paar von denen, aber
       viele machen gleichzeitig weiter.“ Fest steht für sie, dass es in La Goutte
       d’Or keine „No-go-Zone“ gibt.
       
       Und selbst der benachbarte Parc des Buttes Chaumont, in dem sich die
       Dschihadistengruppe der Brüder Kouachi – die Attentäter, die am 7. Januar
       die Charlie-Hebdo-Redaktion umbrachten – regelmäßig traf, sei eine
       lebendige, vielfältige Gegend, betont Meés.
       
       ## Auch Kalaschnikows im Angebot
       
       Dass man dort neben Schmuggelwaren für 200 Euro auch an eine Kalaschnikow
       kommen kann, wie ein Radiosender jüngst berichtete, verwundert die
       Politikerin vor diesem Hintergrund nicht. Für ein härteres Durchgreifen ist
       sie dennoch nicht. Es sei bekannt, wie Menschen im Gefängnis radikalisiert
       würden. Bildung und Erziehung seien die Lösung. Dafür aber fehlt das Geld.
       
       „Wie sollen Erwachsene lernen, in einer Gesellschaft zusammenzuleben, wenn
       man sich nicht kennengelernt hat? Der Fanatismus tritt dort zu Tage, wo die
       Demokratie versagt“, sagt Mées. Die 40-Jährige wirkt entspannt in ihrem
       Fatalismus. Sie redet ganz ungezwungen über ihr Quartier, frei von
       wohlklingenden politischen Parolen. Sie zitiert den Schriftsteller Victor
       Hugo: „Jener, der eine Schultür öffnet, schließt ein Gefängnis.“ Hätten die
       Anschläge also verhindert werden können, wenn die Politik bestimmte
       Gegenden von Paris nicht längst aufgegeben hätte?
       
       Auch Fabrice, ein Geschäftsmann um die 50, sieht große Versäumnisse. Er
       steht neben einem Maronenverkäufer gegenüber dem Rathaus und raucht. Für
       ihn liegt das Problem „in der Scheinheiligkeit unserer Politik“. In der
       Vergangenheit wurden in sozialen Brennpunkten immer wieder Leistungen der
       öffentlichen Hand in Gesundheit und Bildung an gemeinnützige Organisationen
       delegiert, erzählt er.
       
       Diese sollten Jugendlichen, Asylsuchenden und illegalen Einwanderern
       Sprachkurse, Sport- und andere Aktivitäten anbieten. Dann blieb die
       Finanzierung mancher dieser Einrichtungen aber aus – sodass sie wieder
       schließen mussten. Die „sensiblen“ Gegenden wurden wieder anderen
       überlassen, die dort ihre eigenen wirtschaftlichen oder religiösen Ziele
       verfolgten. „Ob die Lage vielleicht besser wäre, wenn die Bewohner, die oft
       nicht die französische Staatsbürgerschaft haben, auch wählen dürften?“,
       fragt der Geschäftsmann.
       
       ## Sie pfeifen auf die Angst
       
       Am Ende kann einem auf der Suche nach den „No-go-Zones“ doch etwas mulmig
       werden. Seit dem 7. Januar hat sich hier etwas Grundsätzliches verändert.
       Die erhöhte Polizei- und Militärpräsenz ist bedrückend, die Soldaten mit
       Maschinengewehr, die Militär-Lkws vor Synagogen, genauso wie die
       Taschenkontrolle am Eingang öffentlicher Gebäude machen Angst. Und dennoch
       geht für die Menschen das Leben weiter. Sie pfeifen auf die Angst, dass
       hier vielleicht wieder jemand auf die Idee kommt, eine Redaktion zu
       erschießen.
       
       So geht es der jungen Fotografin Mélanie, die am Rathaus wohnt. Sie mag das
       Viertel mit seinen netten Cafés, den Hipstern und Künstlern. Sie fühle sich
       sicher und wohne gern dort. Gut finde sie es, dass es dort bald ein Zentrum
       für Drogenabhängige geben wird – ähnlich wie am Berliner Zoo. Ihre
       Lieblingsbäckerei ist zwei Straßen weiter, die Waren dort seien
       ausgezeichnet, sagt sie. Schlendert man dorthin, kommt man an zwei Soldaten
       mit Maschinengewehren vorbei – das sind zwei mehr, als man gern um sich
       hätte.
       
       24 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Frenyo
       
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