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       # taz.de -- Angeblich kürzester Fluss der Welt: Der vermessene Reprua
       
       > Der Reprua gilt mit 18 Metern als kürzester Fluss der Erde. Aber stimmt
       > das auch? Unser Autor ist nach Abchasien gefahren – mit dem Maßband.
       
   IMG Bild: Von der Quelle bis zur Mündung: Der Reprua passt auf ein einziges Foto.
       
       GAGRA taz | Was mit einer Zeitreise und nassen Füßen endet, beginnt mit
       einer Längenangabe und einem Namen, zugeraunt auf einer Party: 18 Meter,
       Reprua. Das soll er sein, der kürzeste Fluss der Welt. Im Internet gibt es
       nur eine Handvoll Fotos des Flusses. Auf denen ist nicht viel zu erkennen,
       außer Wasser, das über Steine ins Meer fließt. Auf den Satellitenbildern
       von Google Maps sind an der Stelle im Kaukasus, wo der Fluss fließen soll,
       nur Wolken zu sehen. Vielleicht gibt es ihn gar nicht, den Reprua.
       Vielleicht ist er nur eine Internet-Erfindung wie der zehnte Vorname von
       Freiherr von und zu Guttenberg.
       
       Und wenn es ihn gibt, wer sagt denn, dass die 18 Meter stimmen? Im April
       2009 hat ein Internetnutzer einen [1][englischsprachigen Wikipedia-Artikel
       über den Reprua] angelegt, mit Verweis auf einen Online-Artikel auf
       Russisch, der von einer universitären Exkursion berichtet und in einem
       Nebensatz die Länge des Flusses erwähnt. Seitdem schreiben alle die 18
       Meter ab.
       
       Das Guinnessbuch der Rekorde kann auch nicht weiterhelfen. Jahrelang haben
       sich zwei Flüsse in den USA um den Titel gestritten. Zunächst wurde lange
       der River D in Oregon mit rund 134 Meter als „kürzester Fluss mit einem
       Namen“ geführt. Bis der Roe River in Montana auf einmal kürzer daherkam. Da
       haben die River-D-Fans noch mal nachgemessen, bei höchster Flut. Und siehe
       da: 36,50 Meter. Vor einigen Jahren hat das Guinnessbuch der Rekorde die
       Kategorie abgeschafft.
       
       Das Einzige, was hilft: hinfahren. Natürlich, es mag Wichtigeres geben.
       Aber wo kann man heute noch Entdecker sein? Ich beschließe, meinen eigenen
       Beitrag zu leisten zur Vermessung der Welt. Bei den längsten Flüssen, beim
       Amazonas, beim Nil, ist das schwierig. Aber die Länge des kürzesten Flusses
       müsste doch überprüfbar sein. Ich packe ein Maßband aus dem Baumarkt ein,
       20 Meter, 4,90 Euro.
       
       Komplizierter ist das Reiseziel: Hätte der Reprua Interesse an Besuchern,
       hätte er sich eine andere Gegend aussuchen müssen. Er fließt in Abchasien,
       einem umkämpften Stück Land, das sich an die Küste des Schwarzen Meeres
       schmiegt, gebeutelt vom Krieg.
       
       ## Russischer Einfluss wächst
       
       De jure ist Abchasien ein Teil von Georgien, de facto ist es seit gut 20
       Jahren unabhängig. In jüngster Zeit steht es immer stärker unter dem
       Einfluss Russlands. Ohne die Millionen an Rubel, die Russland jährlich
       überweist, hätte Abchasien politisch gar keine Chance.
       
       [2][Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen nach Abchasien und spricht von
       einer „schwierigen Sicherheitslage“.] Hintergrund der Warnung dürfte vor
       allem sein, dass die Bundesrepublik im Zweifel ihren Staatsangehörigen dort
       keinen konsularischen Schutz bieten kann, weil sie Abchasien nicht
       anerkennt.
       
       Der Reprua-Fluss liegt nicht weit entfernt von Sotschi, dem Austragungsort
       der Olympischen Winterspiele 2014. Wer aber über Russland nach Abchasien
       einreist, macht sich nach georgischem Recht strafbar – illegaler
       Grenzübertritt. Deshalb reisen wir über Georgien ein, vom Süden also.
       
       An der georgisch-abchasischen Grenze, bei der es sich aus georgischer Sicht
       nicht um eine Grenze handelt, weht an einem Mast die EU-Flagge, obwohl
       Georgien kein EU-Mitglied ist. Ein Polizist, der aussieht wie ein Soldat,
       hält in der Hand ein Sturmgewehr und sitzt gelangweilt da. Am Horizont
       schneebedeckte Berge.
       
       Niemandsland. Eine kurvige Straße, ein Fluss, eine Brücke darüber, von
       deren Geländer das Metall abblättert. Die abchasische Flagge, grün-weiß
       gestreift, in einer Ecke der Fahne ist eine weiße Hand auf rotem Grund. Auf
       einem blauen Schild steht auf Abchasisch, Russisch und Englisch: Republik
       Abchasien. Ein Soldat tritt aus einem Wachhäuschen aus silbernem Wellblech,
       Uniform in grünem Flecktarn, am Ärmel ein abchasisches Abzeichen. Er wirkt
       überrascht. Normalerweise kommen hier nur Landsleute vom Einkaufen zurück,
       volle Plastiktüten in den Händen. Und keine Reisenden aus Deutschland.
       
       Das nötige Visum hatten wir per E-Mail beantragt, das Schreiben, das wir
       als Antwort bekamen, zeigen wir vor. Nach einigen Minuten freundlicher
       Diskussion, einem Anruf beim Chef der Konsularabteilung des abchasischen
       Außenministeriums und ein bisschen Warten dürfen wir rein. Unsere Pässe
       kontrolliert ein Mann in Uniform des russischen Inlandsgeheimdienst FSB.
       
       Bis in die Hauptstadt Suchumi (georgisch) oder Suchum (russisch) – auch der
       Name ist Politik – ist es nicht weit. Ein herausgeputztes Städtchen, im
       Zentrum edle Boutiquen, man bezahlt in Rubel. Im Sommer kommen viele
       Touristen aus Russland hierher.
       
       In Abchasien kennt kaum einer den Reprua. Als Attraktionen werden hier
       andere Ziele genannt: die Pitsunda-Kathedrale, das Tal der sieben Seen. In
       der vollbesetzten Marschrutka, dem typischen Minibus, fahren wir an der
       Küste entlang in Richtung Russland. Links das Schwarze Meer, es schimmert
       bläulich, die Wellen sind unerwartet groß; am Straßenrand Mandarinenbäume.
       Auf großen Plakatwänden sind entweder Helden des Unabhängigkeitskampfes
       abgebildet – oder Mobilfunkwerbung. Wir fahren an einer Bar vorbei, die
       „Chavez“ heißt. Venezuela ist eines von einer Handvoll Ländern, die
       Abchasien als unabhängigen Staat anerkennen.
       
       ## Was macht einen Fluss zum Fluss?
       
       Die Marschrutka stoppt, ein Polizist steigt ein. Er schaut sich unsere
       Pässe an, nimmt das Visum heraus, fragt auf Russisch, woher wir kommen. Aus
       Deutschland, sagt meine Reisebegleiterin. Und wohin wollt ihr? Zum
       kürzesten Fluss der Welt. Ah, zum Reprua, er nickt kurz und verschwindet
       ohne ein weiteres Wort.
       
       Auf dem Smartphone rückt der blaue Punkt näher an die rote Stecknadel, das
       Ziel, heran. Ein Stück hinter dem Städtchen Gagra steigen wir aus, beim
       alten „Sanatorium Moskau“. Ein Stück die Straße entlang. Links, da muss er
       sein. Da ist er.
       
       Was macht einen Fluss überhaupt zum Fluss? Gute Frage. Die Übergänge zum
       Bach sind fließend. Mitunter wird eine Mindestbreite von fünf Metern
       angeführt oder eine bestimmte Wasserdurchflussmenge. Aber eine richtige
       Definition gibt es nicht. Das war auch der Grund, warum das Guinnessbuch
       der Rekorde den kürzesten Fluss verbannte. Die Definition, was ein Fluss
       ist, sei bei abnehmender Größe immer schwieriger festzustellen, heißt es
       von der Rekordredaktion in London
       
       Der Reprua ist zwar kurz, aber nicht klein. Er ist breit, mehr als 20
       Meter. Und scheinbar unerreichbar. Denn von hier oben kommen wir nicht
       hinunter, erst kommt eine senkrechte Felswand, dann ein Bahngleis. Aber
       irgendwie muss man doch zum Fluss kommen. Kommt man auch – per Aufzug
       
       ## 50 Prozent länger
       
       Zurück zum Sanatorium, das offenkundig nicht mehr in Betrieb ist, am
       dösenden Wachmann vorbei. Von hier aus führt eine Fußgängerbrücke über die
       Straße. Am Ende der Brücke ein kleiner Turm wie aus einem Märchenfilm, zwei
       Aufzugsschächte. Der Aufzug ist mehrere Jahrzehnte alt, aber er
       funktioniert noch. Der Knopf leuchtet gelb, die Türe öffnet und schließt
       sich, erst fällt Licht in die Kabine, dann ist es dunkel, dann öffnet sich
       die Tür.
       
       Ein dreistöckiger riesiger Betonsteg führt hinaus ins Meer, am Ende ein
       Sprungturm. Unten sitzen Männer und angeln. Ein paar Bauarbeiter stehen auf
       dem Kiesstrand, fragen, wohin des Wegs. Zum Reprua. 18 Meter sei der lang,
       sagen die Bauarbeiter. Woher sie das wissen? Aus dem Internet.
       
       Das Wasser kommt direkt aus dem Berg, der mit einer Mauer befestigt ist. Es
       fließt über Steine und Kies, schnell und laut, flach genug, um
       durchzuwaten. An der Stelle, an der sich das eiskalte Süßwasser tänzelnd
       mit dem Salzwasser der Meeresbrandung vermischt, schlagen wir einen dicken
       rostigen Nagel in den Kies. Daran befestigen wir das Metermaß und rollen es
       aus.
       
       ## Vermessene Behauptung
       
       Schnell ist klar: Das 20-Meter-Maßband reicht nicht. Die 18 Meter können
       nicht stimmen. Das Ergebnis: Knapp 27 Meter ist der Reprua lang. 50 Prozent
       länger als behauptet. Und die Länge des Flusses kann nicht variieren, weil
       das Wasser direkt aus dem Fels kommt und das Schwarze Meer kaum Tidenhub
       hat. Ist der Reprua also überhaupt der kürzeste Fluss der Welt? Das kann
       schon sein. Aber es einfach so zu behaupten, ist vermessen.
       
       Auf dem indonesischen Sulawesi-Archipel nämlich fließt der Tamborasi, er
       soll eine Länge um die 20 Meter haben. Angeblich. Und auch in der
       Dominikanischen Republik gibt es laut einem Reiseführer einen Fluss, „der
       nach nur wenigen Metern ins Meer mündet“. Da geht noch was. Mein Maßband
       liegt bereit.
       
       16 Feb 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://en.wikipedia.org/wiki/Reprua_River
   DIR [2] http://www.auswaertiges-amt.de/sid_1EB0064AD09BAAAC8D03DD48E93A6C83/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/GeorgienSicherheit.html?nn=338756#doc338674bodyText1
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Erb
       
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