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       # taz.de -- Rapper und Clowns im Westjordanland: Nicht immer das Label „Widerstand“
       
       > In Nablus wehren sich junge Künstler dagegen, nur als Opfer oder
       > politische Missionare gesehen zu werden. Sie wollen einfach kreativ sein.
       
   IMG Bild: Auch, wenn hier nur der bunte Schirm an Clowns erinnert: In Nablus befindet sich die erste Zirkusschule im Westjordanland.
       
       Der Vorkämpfer von Nablus hockt in der dumpfen Ordnung des elterlichen
       Wohnzimmers und reimt. Schwere Polstermöbel umrunden den Teetisch, an den
       Wänden prangen von Glas umrahmte Koransuren, dazwischen mischt Rafeeq
       Hamawi, 20 Jahre, Künstlername Al Rafeeq, am Laptop die Beats, zieht die
       Lautstärke hoch, rappt.
       
       Mit rauer Stimme erzählt er davon, wie die Traditionen hier die Menschen
       gefangen hielten, wie hiesige Medien Politik zu Propaganda ummünzten. Und
       dass man die örtlichen Scheichs und den von ihnen propagierten Gott
       hinterfragen solle. In jedem anderen arabischen Land wäre das schon
       bemerkenswert. Hier, im Norden des Westjordanlandes, ist es fast eine
       Sensation. Al Rafeeq ist eine Stimme des Aufbruchs.
       
       Lange Zeit stand Nablus, die zweitgrößte Stadt des Westjordanlands, für
       wenig mehr als Gewalt, Kampf und Terror. Das Westjordanland wird seit dem
       Sechstagekrieg 1967 von Israel besetzt, seit 1994 verwalten die
       Palästinenser aber Teile davon autonom. Immer wieder wird das gespaltene
       Land, das von jüdischen Siedlungen und einer Sperrmauer durchzogen ist, zum
       Schauplatz blutiger Konflikte. Als Brutstätte des Terrors bezeichnete man
       Nablus, von hier aus sollen während der zweiten Intifada, also zwischen
       2000 und 2005, Dutzende Anschläge auf Israel organisiert worden sein.
       
       Als Konsequenz sperrte die israelische Armee die Stadt über Jahre rigoros
       ab: Checkpoints, Ausgangssperren und israelische Militärinvasionen ließen
       das öffentliche Leben stillstehen. Die Wirtschaft lag darnieder, Armut
       grassierte. Doch hat sich die Lage seit einiger Zeit sichtbar entspannt:
       Die palästinensische Polizei schreitet gelassen über die Märkte, in den
       Einkaufszonen von Nablus reihen sich gut bestückte Stände aneinander,
       trendige Läden säumen die belebten Straßen. Auch lässt sich ein mentaler
       Wandel beobachten: Die Jungen begehren auf.
       
       ## Es muss nicht immer Freiheitskampf sein
       
       Dagegen, dass Wut und Vorurteile ihren Alltag beherrschen. Dagegen aber
       auch, Spielball zu sein der erfolglosen Politik beider Seiten, abhängig vom
       Wohlwollen ausländischer Unterstützer. Die Jugend von Nablus will die
       Zukunft selbst gestalten. Und das friedlich.
       
       So wie Rafeeq Hamawi. Der Rap-Musiker – brauner Pulli, Jeans, Brille –
       lässt sich auf den Sessel fallen und holt tief Luft. „Ich wehre mich
       dagegen, dass jede Geste, jedes Lied unter dem Label ,Widerstand‘ und
       ’Freiheit für Palästina‘ laufen muss“, sagt Hamawi, der eigentlich
       Architektur studiert. Aggressive Töne sind ihm zuwider, das grimmige Gehabe
       der Gangster-Rapper mag er nicht.
       
       Er brülle nicht gegen Besatzung und Unterdrückung an, verfolge keine
       politische Agenda. Vielmehr stellt er sich in seinen Songs, die auf
       [1][Youtube] und [2][Soundcloud] in kurzer Zeit Tausende Klicks generieren,
       persönliche Fragen: An welchen Gott glaube ich, was sollte Bildung
       vermitteln, in welcher Gesellschaft will ich leben?
       
       Damit stößt Hamawi in seinem Umfeld schon mal auf Unverständnis. Immerhin
       folgte auf die anhaltende äußere Isolation bei vielen Bewohnern auch etwas
       anderes: ein Rückzug ins Innere, eine Besinnung auf die „eigenen“
       Traditionen. Man solle sich von ihm, dem Atheisten, fernhalten, schreiben
       ihm manche Leute auf Facebook. Und bei Auftritten, etwa an der Universität
       in Ramallah, riefen Zuhörer Hamawi zu: „Das ist Haram, verboten.“ Es gibt
       aber auch junge Frauen die ihm schreiben: „Rafeeq, ich liebe dich!“
       
       ## Die erste Zirkusschule
       
       Kunst müsse widersprüchliche Gedanken erlauben, sagt Hamawi und reibt sich
       das Kinn. Nur so könne sich eine freie Gesellschaft entwickeln. Er ist
       überzeugt, dass der Diskurs in seiner Heimat langsam offener werde. Der
       Erfolg von nonkonformen Rap-Größen wie Boikutt oder Stormtrap aus Ramallah
       scheint ihm recht zu geben. „Es gibt hier ein großes kreatives Potenzial.“
       
       Daran glaubt auch Mahmud Masri, Leiter der Nablus Circus School, der
       [3][ersten Zirkusschule im Westjordanland]. Rund 100 Kinder und Jugendliche
       lernen in der 2004 gegründeten Schule derzeit Jonglieren, Stelzenlaufen
       oder Einradfahren. Sie treten in Schulen, Kulturzentren und
       Flüchtlingscamps rund um Nablus auf. Und sie reden miteinander, setzen sich
       nach den Workshops mit den Artisten zusammen, besprechen ihre Nöte und
       Freuden.
       
       „Wir schaffen einen angstfreien Raum, wo sich Schüler trauen, Dinge zu tun,
       die sie nie zuvor gemacht haben“, sagt Masri. Anfangs war es ein Wagnis:
       Clowns und Seiltänzer, das kannte man in Nablus bis dahin nur aus dem
       Fernsehen.
       
       „Warum macht ihr das?“, fragten Zuschauer bei den Aufführungen. Auch hatte
       keiner der Trainer Theatererfahrung. Sie stülpten sich blau gefärbte
       Eierschalen als Clownsnasen über und schauten sich Gags von Youtube-Videos
       ab. Heute ist die Nachfrage nach den Artisten groß: Regelmäßig reisen sie
       zu Shows etwa nach Schweden oder Dänemark oder gastieren beim renommierten
       Berliner Zirkus Cabuwazi.
       
       ## Mehr Interesse an Kultur
       
       Gerade zieht die Schule von den beengten Räumen des einstigen Rivoli Kinos
       in der Altstadt in eine geräumige Villa auf einer Anhöhe mit Blick auf die
       Berge. Eine Oase, eine Insel der Bestärkung soll die Schule sein. Das sei
       gerade hier essenziell, sagt Masri. Nicht nur, weil es in Nablus noch immer
       an Spielplätzen, öffentlichen Anlagen, Orten persönlicher Selbsterfahrung
       mangelt. „Die Schüler fühlen sich besonders, wenn sie etwas beherrschen,
       was die anderen in ihrer Nachbarschaft nicht können“, sagt Masri. „Das gibt
       ihnen Selbstbewusstsein.“
       
       Einige Autominuten von der Innenstadt entfernt, gegenüber der wuseligen
       Seitenstraße, die ins Al-Askar-Flüchtlingscamp führt, sitzt Hatem Hafi in
       seinem Büro und brüht Tee auf. Neben ihm fläzt sich Mohamed Barges, ein
       Tänzer aus Hafis Breakdance-Gruppe, auf dem Sofa. „Es gibt in der Westbank
       heute deutlich mehr Interesse an Kultur“, sagt Hafi, Direktor des „Nablus
       Center for Arts and Culture“.
       
       Bis Anfang der Neunziger, als den Osloer Friedensverträgen die Schaffung
       der quasistaatlich agierenden Palästinensischen Autonomiebehörde folgte,
       habe es im Westjordanland 12 Musiklehrer gegeben. Heute seien es mehr als
       200. Theater wurden gebaut, Kulturhäuser eröffnet.
       
       Doch erst jetzt, wo der Alltag nicht mehr beständig um die eigene
       Sicherheit kreist, nehmen die Palästinenser die Angebote auch wahr: Die
       Nachfrage nach Hafis Kursen wächst. Mehrmals pro Woche treffen sich Bands
       und Tanzgruppen, Chor und Theaterensemble zur Probe. „Die Kultur gibt den
       Palästinensern ein Gefühl von Eigenständigkeit.“
       
       ## Wachsende Akzeptanz
       
       Mohamed Barges – Jogginghose, Boots, Kapuzenjacke – nickt. Der 23-Jährige
       wurde im Al-Askar-Flüchtlingslager geboren, dort, wo sich zahllose
       gedrungene Häuschen so eng aneinanderreihen, dass die Sonne kaum in die
       Gassen dringt. Früher gab es hier nur „Dabka“, den traditionellen
       orientalischen Reihentanz. Doch Barges drehte den Bass auf, warf sich auf
       den Boden, rotierte auf seinen Händen. Breakdance sei westlich, raunten die
       Nachbarn, gehöre nicht nach Nablus. Doch die sozialen Medien öffneten den
       Blick für andere Stile, über das Westjordanland hinaus.
       
       „Heute akzeptieren sie meine Tanzweise eher“, sagt Barges. Er möchte
       Profitänzer werden, auch wenn es noch keine professionelle Tanzschule im
       Westjordanland gibt. Für Berufskünstler sei es noch ein langer Weg, sagt
       Hatem Hafi und nippt an seinem Tee. „Doch wir stoßen eine Veränderung an.“
       
       Wenn er bei Auslandsbesuchen als Kulturschaffender und nicht als
       vermeintliches Opfer oder politischer Missionar wahrgenommen werde, sei das
       ein wichtiges Signal. Darüber, sagt Hafi, könne dann endlich ein Dialog
       beginnen.
       
       17 Feb 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.youtube.com/user/RafeeqG1
   DIR [2] http://soundcloud.com/alrafeeq
   DIR [3] http://nabluscircus.blogspot.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Backhaus
       
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