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       # taz.de -- Debatte Ursprung von Extremismus: Die korrupten Eliten sind schuld
       
       > Terror blüht dort, wo die Mächtigen täglich die Bevölkerung bestehlen.
       > Der Westen will das partout nicht wahrhaben.
       
   IMG Bild: Mutmaßliche Dschihadisten hinter Gittern, Sanaa, Jemen
       
       Warum hat sich der halbe Irak für die Milizen des Islamischen Staats
       geöffnet, also für eine Gruppierung, die als eine der psychotischsten
       überhaupt gilt? Wie konnte Boko Haram in Nordnigeria dauerhaft Fuß fassen?
       Warum werden die al-Qaida-Führer im Jemen trotz der regelmäßigen
       Drohnenangriffe einfach nicht weniger? Haben diese so unterschiedlichen
       Länder etwa etwas gemeinsam?
       
       Allerdings: Sie alle haben eine endemisch korrupte Elite.
       
       Wir reden hier nicht von einem Maß an Bestechlichkeit, die sich überall auf
       der Welt findet. Die Bevölkerung in Irak, Nigeria oder Jemen – sowie auch
       in der Ukraine und einem halben Dutzend weiterer arabischer Staaten – sind
       einer Korruption ausgesetzt, die keine Entsprechung in westlichen Ländern
       hat.
       
       Bei dieser Form der Korruption handelt es sich nicht um das leise Anzapfen
       von öffentlichen Geldern. Diese Korruption bestiehlt die Menschen direkt –
       und jeden Tag. Wenn die Polizei einen Bus betritt, müssen die Mitfahrenden
       bar bezahlen oder sie riskieren, aus dem Fahrzeug gezerrt und
       zusammengeschlagen zu werden. Müssen sie ihr Kind ins Krankenhaus bringen,
       sind sie gezwungen, dafür zu bezahlen, um auch nur beachtet zu werden.
       
       Erst kürzlich sprach ich mit einem Journalisten aus Usbekistan, der darüber
       nachdachte, sein Auto zu verkaufen, damit er den Weg zum College für seinen
       Sohn freikaufen könnte – obwohl dieser die Einstellungsprüfung mit
       Bestnoten bestanden hatte. Ein Bekannter von mir aus Afghanistan musste
       unlängst Schmiergelder für die Todesurkunde seines Vaters bezahlen. Dieser
       war von einer Drohne getötet worden.
       
       ## Wenn der Peiniger die Regierung ist
       
       Die Empfänger jener Bestechungsgelder stehen am unteren Ende der
       gesellschaftlichen Hierarchie und müssen bei ihrem Weg nach oben einen
       Gutteil ihrer Beute mit anderen „teilen“. Die ihnen übergeordneten
       Regierungen aber sind am treffendsten nicht als solche, sondern als hoch
       effiziente kriminelle Organisationen beschrieben.
       
       Wenn Menschen Tag für Tag so ausgequetscht, erniedrigt und missbraucht
       werden und ihre Peiniger auch noch Mitglieder der Regierung sind – also
       just der Institution angehören, die Gesetze einhalten und nicht brechen
       sollte – dann werden sie irgendwann wütend. Und wütende Menschen,
       insbesondere wütende junge Männer, die man in ihrem Stolz verletzt und
       ihrer Zukunftsperspektiven beraubt, greifen manchmal auch zur Gewalt.
       
       Extremistische Bewegungen bieten solchen Männern – und mittlerweile auch
       zunehmend Frauen – zwei Dinge an. Erstens: Sie offerieren eine Erklärung.
       Die Expertin für Zentralasien, Marlene Laruelle, verwies mich darauf:
       „Islamisten argumentieren, dass die Regierung korrupt und ungerecht
       handelt, weil sie säkular ist.“ Früher haben solche Überlegungen nicht
       weiter verfangen, inzwischen tun sie es.
       
       Dschihadisten, anders formuliert, spielen ein doppeltes Spiel mit dem
       Begriff der Korruption. Sie propagieren, dass die Regierungsvertreter so
       korrupt sind, weil sie sich einer rigorosen Auslegung religiöser
       Verpflichtungen entzogen haben. Für sie lässt sich das öffentliche Leben
       entsprechend nur durch die Anwendung eines strikten Codes reformieren, der
       nicht weniger als die private Moral regelt. Per Zwang oder – wenn nötig –
       auch Gewalt.
       
       ## Die Quellen reduzieren
       
       Das Zweite, was die Dschihadisten den Opfern von grenzenlos korrupten
       Regierungen anbieten, ist ein Ventil für ihre Wut. Sie geben ihnen eine
       Waffe und darüber hinaus die Möglichkeit, ihren Stolz wenigstens in Teilen
       zurückzugewinnen. Der Preis dafür ist hoch, im Zweifel kann es sie ihr
       Leben kosten. Doch für viele ist die Frustration so groß, dass ihnen dieser
       Deal lohnenswert erscheint.
       
       US-Präsident Barack Obama wird nicht müde zu betonen, dass sich „dieser
       andauernde Krieg ohne eine Strategie, die die Quellen des Extremismus
       reduziert“, als zerstörerisch erweisen werde. Zu Recht.
       
       Doch de facto konzentriert sich der Großteil der US-amerikanischen
       Anstrengungen allein auf militärische Lösungen – seien es Drohnen und
       Luftangriffe im Irak oder die Ausbildung von Kämpfern von sogenannten
       Frontstaaten. Der für 2016 verabschiedete US-Verteidigungshaushalt stellt
       5,8 Milliarden US-Dollar für Aktivitäten allein in Irak und Syrien bereit.
       
       ## Von den Geheimdiensten übergangen
       
       Keine dieser Ausgaben wurde vorgemerkt für die Kleptokratie-Einheit im
       US-Justizministerium und für die Handvoll der dort angesiedelten
       Staatsanwälte und FBI-Investigatoren, die sich gemeinhin der schamlosesten
       – und bestbezahlten – Kriminellen der Welt annehmen sollen.
       
       Das Thema Korruption und ihre Bekämpfung steht auch nicht im Lehrplan für
       Leute, die für den auswärtigen Dienst ausgebildet werden. Geheimdienste
       sammeln und analysieren nicht systematisch über korrupte Netzwerke. Sie
       fragen nicht, über welche Machtinstrumente diese verfügen, wie die
       Einkommensströme verlaufen, wo die regierenden Eliten und Netzwerke
       verwundbar sind und wie ihre Verbindungen zum organisierten Verbrechen oder
       offenbar legitimierten Geschäftsleuten verlaufen.
       
       Sich mit solchen Regierungen zu verbünden, um den Terrorismus zu bekämpfen
       – und das tun die USA und ihre westlichen Partner für gewöhnlich –
       bedeutet, die Situation zu verschlimmern. Denn die Dschihadisten werden in
       ihrer Annahme bestätigt, dass der Westen von der Korruption profitiert und
       sie also nicht nur billigt, sondern auch noch unterstützt. Unterm Strich
       werden mithilfe dieser Strategie einige wenige Terroristen kaltgestellt und
       gleichzeitig viele neue geschaffen.
       
       Wenn es westlichen Verantwortlichen ernst damit wäre, tatsächlich die
       Ursachen für Extremismus anzugehen, dann böte die Korruption eine gute –
       und bemerkenswert ignorierte – Möglichkeit, damit endlich zu beginnen.
       
       Aus dem Englischen übersetzt von Ines Kappert
       
       17 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Chayes
       
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