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       # taz.de -- Der Film "Sag mir Mnemosyne" auf der Berlinale: Was bleibt von einem Leben?
       
       > Die Hamburger Filmemacherin Lisa Sperling ist den Spuren ihres Großonkels
       > gefolgt, des Fotografen und Kameramanns Karl-Heinz Hummel.
       
   IMG Bild: Schöne Aussicht - fast wie in den 50ern, wäre da nicht das Graffito.
       
       HAMBURG taz | Nur wer in der griechischen Mythologie bewandert ist, kann
       diesen Filmtitel enträtseln. Mnemosyne ist die Tochter von Uranus und Gaia,
       den Schöpfungsgöttern von Himmel und Erde. Sie selber gilt als Göttin der
       Erinnerung und ist die Mutter der neun Musen, also der Künste. Die
       Filmemacherin Lisa Sperling buchstabiert dies auch in ihrem Film nicht aus,
       denn sie arbeitete gerne mit Assoziationen und Andeutungen.
       
       HAMBURG taz | Erinnerung ist das zentrale Thema ihres 55 Minuten langen
       Essayfilms. Zudem lebte ihr Protagonist lange in Griechenland und war sehr
       an der antiken Mythologie interessiert. Karl-Heinz Hummel war Sperlings
       Großonkel. Er arbeitete als Fotograf und Kameramann und starb 2009 im Alter
       von 80 Jahren.
       
       Sie selber traf ihn einmal als Zehnjährige, hat aber keine persönliche
       Erinnerungen an ihn, und es gibt auch sonst kaum Spuren seines Lebens.
       Seine Sozialwohnung wurde nach seinem Tod „entrümpelt“, er wurde anonym
       beigesetzt und der Nachlass besteht aus ein paar Papierseiten mit seiner
       Filmografie.
       
       ## 50er-Jahre in Griechenland
       
       Gerade dieser Mangel reizte Lisa Sperling. Sie begann eine Recherche, um
       ihren entfernten Verwandten postum näher kennenzulernen. Nicht so sehr aus
       familiären, emotionalen Gründen, sondern als philosophisches Projekt:
       Welche Spuren bleiben von einem Leben, das nicht durch Familie und
       Nachkommen bewahrt wird?
       
       Immerhin gibt es noch Filmaufnahmen von Karl-Heinz Hummel. Dieser reiste in
       den späten 50er-Jahren nach Griechenland, wo er lange als Kameramann
       arbeitete. Als seine Großnichte seinen Spuren folgte, fand sie in
       griechischen Archiven einige seiner Arbeiten. Ausschnitte daraus sind im
       Film die einzigen Zeugnisse des Protagonisten.
       
       Lisa Sperling zeigt kein einziges Foto von ihm, Tagebuchnotizen werden zwar
       zitiert, aber nie gezeigt und sogar die Zeitzeugen, die sich in Interviews
       an ihn erinnern, zeigt Sperling nie im Bild, sondern sie lässt sie nur
       indirekt von der Erzählstimme zitieren. Diese spricht zwar in der Ich-Form
       und ist weiblich, doch sie klingt abgeklärt und distanziert – eher als
       würde sie über die Natur der Menschen nachsinnen, als einem Verwandten
       nachzuforschen.
       
       Diese Kühle, dieses radikale Fehlen von Sentimentalität ist faszinierend.
       Lisa Sperling selber sagt in einem Telefongespräch dazu, sie habe schon
       früh gemerkt, dass sie dem Leben Karl-Heinz Hummels mit solch einem Film
       nie würde gerecht werden können. Deshalb würde sie sich ihm lieber
       fragmentarisch und nicht zu konkret annähern.
       
       Und auch stilistisch will sie ihm nicht zu nahe treten, will seinen
       dynamischen, oft mit der Handkamera gedrehten Bildern keine Konkurrenz
       machen. So sind, von zwei Ausnahmen abgesehen, alle ihre Bilder mit einem
       Stativ aufgenommenen, ohne Schwenks oder Zooms – darunter viele lange
       Einstellungen, die zum Teil geschickt im Bezug zu den Bildern ihres
       Großonkels stehen.
       
       Dieser drehte in den 60er-Jahren in Schwarzweiß eine Straße vor einer
       griechischen Fabrik und Sperling fand genau seinen Standpunkt, an dem sie
       eine deckungsgleiche Aufnahme über vierzig Jahre später noch einmal machen
       konnte. Andere Sequenzen sind wie Kommentare. So folgen auf idyllische
       Bilder von einer Weinlese, die auch damals schon geschönt gewirkt haben
       dürften, Sperlings lange Einstellung von Frauen, die in einer Fabrik
       Weintrauben für den Export verpacken.
       
       Während Hummel damals auch Klischeebilder von Griechenland drehte, wie ein
       direktes Alexis-Sorbas-Zitat Sirtaki tanzender Männer am Strand, zeigt
       Sperling eher alltägliche Szenen von Kindern, die in einem leeren
       Swimmingpool Ball spielen, oder alten Männern, die in einem Café Karten
       spielen.
       
       ## Küste nur für Hotels
       
       Diese langen atmosphärischen Aufnahmen erzeugen eine ganz eigene
       kontemplative Stimmung. „Für mich gehen Filme oft viel zu schnell“, sagt
       Sperling. „Ich brauche diese Ruhe, mit der man sich auf ein Bild einlässt
       und mal was anschauen kann.
       
       Eine „kindliche Phantasie“ will sie in den Zuschauern wecken und darum
       schweift sie auch so oft und gerne ab. Ihre heutige Reise auf den Spuren
       Hummels ist ihr genauso wichtig wie die Ergebnisse ihrer Recherche. So
       erzählt sie etwa davon, wie die Regierung Griechenlands tradierte
       Küstenrechte verändern wolle, damit große Hotels den öffentlichen Zugang zu
       ihren Stränden verbieten können oder zeigt, wie pakistanische Fremdarbeiter
       in den Vereinigten Arabischen Emiraten arbeiten.
       
       Dort arbeitete Hummel am Aufbau eines Filmstudios, und Sperling fand auch
       einige seiner damaligen Freunde, die sich an den „Freigeist“ erinnern. Aber
       diese Spuren wirken noch verwehter, weil es keine von Hummel gemachten
       Bilder aus dieser Zeit mehr gibt. Stattdessen zeigt Sperling, wie radikal
       sich sein damaliger Wohnort verändert hat: Wo damals ein paar Hütten
       standen, ragen jetzt riesige Wolkenkratzer aus der Wüste empor.
       
       Lisa Sterling, 1986 in Stuttgart geboren, studierte Film an der HFBK
       Hamburg und hat schon 2011 die Dokumentation „Stuttgart 21 – Denk mal!“
       über den Widerstand gegen den geplanten Bahnhofsbau auf der Berlinale
       gezeigt. Ihr damaliger Ko-Regisseur Florian Kläger hat jetzt beim Schnitt
       geholfen, und die Montage ist auch die große Überraschung: Die freien
       Assoziationen wirken nie beliebig. Oft gibt es verblüffende
       Zusammenführungen wie jene einer Tagebuchaufzeichnung Hummels über das vom
       Bomben zerstörte Stuttgart mit Bildern von der Akropolis, die ja auch eine
       Ruine ist. Mnemosyne hat gesprochen
       
       Der Film läuft am donnerstag, 13 Uhr, und am Freitag, 20.30 Uhr, auf der
       Berlinale
       
       11 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wilfried Hippen
       
       ## TAGS
       
   DIR Dokumentarfilm
       
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