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       # taz.de -- Obdachlos in Berlin: Ein Bett für die Nacht
       
       > „Tragisch, wenn man nicht weiß, wie es weitergeht“, sagt Ben. Er, Tom und
       > Oskar machen sich gegenseitig Mut. Ein Besuch in der Notunterkunft.
       
   IMG Bild: Morgens um acht Uhr müssen alle wieder raus sein. Danach werden die Betten wieder für den Abend hergerichtet.
       
       BERLIN taz | „Das hier ist nicht das Leben, das hier ist das Überleben“,
       sagt Tom, 25 Jahre, seit Sonntag obdachlos. Heute ist Mittwoch. Die
       Temperatur liegt unter dem Gefrierpunkt. Tom dreht eine Zigarette, zündet
       sie an, inhaliert und fällt zurück in den Stuhl. Gestern hat er um die Ecke
       in einem Hausflur geschlafen. „Ich hatte nichts außer einer Isomatte. Kein
       Schlafsack, gar nichts. Ich hab ’ne halbe Kugel Heroin genommen und nichts
       mehr gemerkt, keine Kälte, kein Nichts.“
       
       Es ist 19 Uhr, Aufnahmezeit in der Franklinstraße 27a, einer Anlaufstelle
       für Menschen ohne Bleibe in Berlin-Charlottenburg. Zwei Sozialarbeiterinnen
       sitzen im Büro und registrieren die Besucher. Hartz-IV-Bezieher werden
       schnell versorgt, Flüchtlinge in Ausnahmefällen. Arbeitsmigranten hätten in
       der Regel keinen Anspruch, erklärt Jürgen Mark, seit 1986 Leiter der
       Einrichtung. „Ausnahmen gibt es, sind aber nicht die Regel.“ Er hebt
       Schultern und Brauen. Etwa 11.000 Menschen ohne festen Wohnsitz gibt es in
       Berlin, OFW, wie das im Fachjargon heißt. Viele davon leben in einem
       Übergangswohnheim. Menschen, die auf der Straße schlafen, unter Brücken
       oder auf der Parkbank, werden statistisch nicht erfasst. Tom ist einer von
       ihnen.
       
       Von Anfang November bis Ende März fährt der Kältebus – insgesamt drei
       dieser Art gibt es in Berlin – Notunterkünfte und Nachtcafés an, darunter
       auch die Franklinstraße. Gegenwärtig finanzieren der Caritasverband und die
       Berliner Stadtmission das Projekt gemeinsam: insgesamt knapp 27.000
       Übernachtungen jährlich und 73 Betten täglich für Menschen in Not. Über das
       Jahr hinweg ist die Unterkunft in der Franklinstraße nicht gleichmäßig
       ausgelastet. Im April und Oktober spitzt sich die Situation oft dramatisch
       zu, wenn die Kältehilfe noch nicht oder eben nicht mehr aktiv ist, die
       Abende aber bereits oder noch immer kalt sind. Etwa 500 zusätzliche
       Schlafplätze fallen dann nach fünf Wintermonaten über Nacht weg.
       
       Der hochgewachsene Leiter schüttelt den Kopf, sein schulterlanges Haar,
       ergraut, wippt mit. „Dann ist es hier knackevoll.“ Im Laufe des Abends
       kommen etwa sechzig Gäste in die Franklinstraße, auf der Suche nach einem
       Platz zum Schlafen und einer warmen Mahlzeit. Hier erhalten sie ein Stück
       Seife, einen Einwegrasierer und ein Handtuch. Auch eine Essenmarke.
       
       ## Rote oder braune Soße?
       
       Im Gemeinschaftsraum stehen fünf Tischreihen aus Holz, die Wände sind weiß.
       Tom reiht sich in die Schlange vor der Essenausgabe ein. „Rote Sauce,
       braune Sauce?“, fragt die Sozialarbeiterin. „Ähm? Rot.“ Tom reicht den Bon
       rüber, sie den Teller. Ein „Bitte“ und ein „Danke“ auf beiden Seiten. Heute
       steht Pasta mit Tomaten-, alternativ Jägersoße auf dem Plan. Das Essen
       spendet die Tafel. Tee und Geschirr, aber auch Brot, Margarine, Aufstrich,
       Kuchen und Obst stehen auf einem Tischwagen neben der Essenausgabe. Alles
       darf gegessen werden, solange der Vorrat reicht.
       
       „Von Gras bis Heroin, ich hab alles durch, seit ich zehn bin“, erzählt Tom.
       Seine Brüder haben damit angefangen. „Ich kenne das eigentlich gar nicht
       anders. Jetzt kämpfe ich mich da durch, hab schon ganz andere Sachen
       geschafft.“ Er schiebt Nachtisch in den Mund, Pflaumenkuchen. „Ja klar,
       kommst wieder auf die Beine, dauert halt ’ne Zeit lang“, sagt Ben, um ihn
       und vielleicht auch sich selbst aufzumuntern.
       
       Auch Ben hat heute Nacht kein Dach über dem Kopf. Er notiert, was er in den
       nächsten Tagen erledigen will. Seine Eltern waren mit ihm vor acht Jahren
       nach Portugal ausgewandert, damals war der Mann mit den zerzausten Haaren
       17 Jahre alt. Die prekäre Arbeitssituation dort trieb Ben nach Deutschland
       zurück. Sein Gesicht ist schmal, der Blick scheu. Er trägt einen
       Schnurrbart und eine schwarze Stoffjacke.
       
       ## Touristen, Richter, Manager
       
       Etwa zwei Dutzend Menschen sitzen hier. Junge und Alte, fast ausschließlich
       Männer. Einige essen und reden, andere schweigen. „Einen typischen Gast
       gibt es nicht“, sagt Jürgen Mark. „Ich habe hier schon viele persönliche
       Schicksale erlebt. Mittellose Touristen und Richter mit Messie-Problem.
       Beschämte Manager und Kriegsflüchtlinge, Süchtige und andere
       Hilfebedürftige.“ Hier findet jeder ein Bett.
       
       Draußen, vor dem Aufnahmebüro, sitzt ein Gast, etwa Mitte vierzig, und
       wartet. Sein Blick ist auf den Linoleumboden geheftet. Vor ihm liegt eine
       Sporttasche. „Wir kontrollieren Taschen“, erklärt Jürgen Mark.
       „Körperöffnungen, wie beim Drogennotdienst, nicht.“ Nebenan sitzt ein
       junges Pärchen mit Baby und klärt mit den Sozialarbeiterinnen die
       Formalitäten. Wie lange die Gäste bleiben, entscheidet die Belegschaft nach
       einem Gespräch und persönlichem Ermessen.
       
       Vier Mitarbeiterinnen sind heute neben dem Leiter vor Ort. Zwei bleiben
       über Nacht. Das Haus kooperiert mit Beratungsstellen und vermittelt die
       Obdachsuchenden am nächsten Morgen weiter. Manchmal auch erst am
       übernächsten oder überübernächsten. In soziale Wohnprojekte, zum
       Drogennotdienst, in andere Therapieeinrichtungen und Krankenhäuser,
       manchmal zum Jobcenter. Ziel ist es, jede Notsituation so schnell wie
       möglich zu beenden. Jedenfalls in der Franklinstraße.
       
       ## „Braucht jemand Kleidung?“
       
       Eine Sozialarbeiterin läuft durch den Raum und fragt laut: „Braucht jemand
       Kleidung?“ Dann lauter: „Wer braucht was zum Anziehen?“ Drei Männer folgen
       ihr. Die Notkleiderkammer befindet sich im zweiten Stock. Kaltes Licht
       erhellt die kahlen Flure. Die Notunterkunft ist Teil eines Häuserensembles
       aus rotem Backstein, errichtet gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst
       stellte Siemens, später Osram hier Glühbirnen her. Dann kam der Krieg. Von
       1954 bis 1986 war das Haus zu einer Übernachtungseinrichtung der Berliner
       Bahnhofsmission umfunktioniert.
       
       Mäntel, Jacken und Taschen hängen im Raum, Hosen und Pullover liegen exakt
       gefaltet im Regal, Mützen und Handschuhe sind auf dem Fensterbrett
       ausgebreitet. Schuhe, Socken und Unterwäsche in Boxen getrennt. „Ab und an
       kann es auch passieren, dass Nackte bei uns eingeliefert werden, direkt aus
       dem Krankenhaus, lediglich mit einem Kittel bedeckt. Die werden dann hier
       ausgestattet.“
       
       Jürgen Mark zeigt auf die bunten Kleiderhaufen. „Das sind Spenden. Jeden
       Tag kommen Leute vorbei und geben Sachen ab. Aber wir erhalten auch
       Spenden, mit denen wir hier überhaupt nichts anfangen können,
       Strasskleidchen oder High Heels.“ Während er das Licht ausknipst und die
       Tür hinter sich abschließt, fügt er hinzu: „Unterhosen und Socken sind
       Mangelware, das ist das, was die Menschen hier am dringlichsten benötigen.
       Die kriegen wir aber meist nur von Toten.“
       
       ## Um acht ist Schluss
       
       Unten ist es mittlerweile ruhiger geworden. Eine Handvoll Menschen sitzt im
       Gemeinschaftsraum. Tom hat Tee nachgefüllt. Aus der Hosentasche seiner
       Jeans schiebt er eine Packung Diazepam und schluckt eine Tablette mit Tee
       herunter. „Die helfen mir beim Schlafen, dann hat man keine Träume.“
       
       „Hey, Jungs, eine Frage“, ruft Oskar vom Nebentisch. „Wenn ich morgen zum
       Sozialamt fahre, ja?“ – „Hast du dich schon OFW gemeldet?“, wirft Tom ein.
       – „Was hab ich?“ – „Ob du dich schon OFW gemeldet hast, ohne festen
       Wohnsitz?“ Oskar nickt. „Da gehste zum Bezirksamt oder Bürgeramt, ja? Da
       gehste hin, da gibt’s die soziale Wohnhilfe.“
       
       Die Jungs im Raum beraten einander, füllen gemeinsam Formulare aus. Oskar
       ist seit Freitag ohne Dach über dem Kopf und zum ersten Mal in der
       Franklinstraße. Seine Freundin hat sich von ihm getrennt. „Ich kam erst mal
       gar nicht klar, Alter.“ Zwei Tage schlief er im Schlafsack auf einer Bank
       draußen. „Aber es war sehr kalt, deshalb bin ich hier.“
       
       ## Studienziel Meeresbiologie
       
       Haben sie Wünsche für die Zukunft? Bescheiden: Oskar wünscht sich einen
       Platz im Wohnheim, am liebsten eine eigene Wohnung. Tom ein Leben ohne
       Drogen. Er will wieder studieren, Meeresbiologie. Ben wünscht sich Arbeit,
       noch dringlicher eine Bleibe. Beim Bezirksamt war er bereits und wartet auf
       Zuteilung eines Zimmers. Seine Situation gestaltet sich schwierig. „Mir
       haben sie Neukölln zugewiesen, die haben mir nichts anbieten können.
       Neukölln ist völlig überlaufen.“
       
       Aus dem Rucksack holt Tom einen MP3-Player. „Ich bin eigentlich so ein
       Goa-Mensch. Wenn mich jemand fragt, was meine Lieblingsmusik ist, sage ich
       immer „open mind“. Hauptsache, gut.“ Er setzt die Kopfhörer wieder auf. Ben
       seufzt. „Das ist tragisch, wenn man nicht weiß, wie es weitergeht. Das ist
       total schwierig, wenn man nicht weiß, was übermorgen ist.“
       
       Die offizielle Aufnahmezeit läuft bis 21.30 Uhr, akute Fälle werden aber
       auch danach noch aufgenommen. Um acht Uhr morgens schließt die Einrichtung
       wieder. Davor gibt es Frühstück und warmen Kaffee. Zu Weihnachten gab es
       noch ein Extrapäckchen: Zahnbürste und Zahnpasta, Deodorant. Schokolade und
       Nüsse. Auch Unterwäsche und Socken. Nicht von Toten. Neu, mit Etikett.
       
       15 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonia Dimitrow
       
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