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       # taz.de -- Die Wahrheit: Fette Esel auf wackeligen Knien
       
       > In Bremen machen sich nicht nur Touristen hochgestapelt und gern zu
       > kompletten Vollhonks. Foto bizarr lautet dort die Losung.
       
   IMG Bild: Das gefällt den Touristen: maritime Stimmung in Bremen.
       
       Wer schon einmal in Pisa war, hat sicherlich folgendes Schauspiel gesehen:
       Menschen, die wie angewurzelt herumstehen und beide Hände in den Himmel
       halten, so konzentriert, als berührten ihre Finger einen imaginären
       Volleyball oder die Brüste eine sehr großen Frau. Und dann erst entdeckt
       man dahinter diesen schiefen Turm.
       
       Das Einzige, was es in Pisa zu sehen gibt, sind die Menschen vor diesem
       Turm. Die Massen von Menschen, die auch nicht wissen, was sie sonst hier
       tun sollen, die sich in einiger Entfernung vor dem Turm aufbauen und
       pantomimisch bedeuten, dass sie diesen stützen, vorm Umfallen bewahren, bis
       irgendwer ein Foto macht.
       
       Touristen, die bereit sind, für ein originelles Urlaubsfoto alles zu geben,
       sogar ihre Würde, gibt es aber auch andernorts. Zum Beispiel in Bremen. Wer
       ein paar Stunden aufmerksam durch die Bremer Innenstadt streift, wird ihn
       irgendwann entdecken: diesen freundlichen Herrn im unauffälligen
       Regenparka, der mit einem Mal seinen Freizeitrucksack absetzt und im
       nächsten Augenblick auf allen vieren kniet, direkt vor den gewichsten
       Stiefeln seiner Gattin.
       
       ## Perfekte Foto-Musikanten
       
       Die wiederum stellt ihre Einkaufstüten aufs Pflaster, rafft die Röcke und
       klettert, in kichernder Vorfreude, auf den Rücken ihres Mannes. Ihr
       pickliger Sohn kraxelt, lustlos, murrend, noch obendrauf, dass sich das
       Gesicht des Vaters bereits schmerzvoll verzieht. Und wenn zuoberst noch der
       Dackel Platz nimmt, sind die Bremer Stadtmusikanten perfekt.
       
       Ein Fußgänger drückt auf den Auslöser des Fotoapparats, den ihm der Vater
       zuvor gereicht hat. Frau, Kind und Hund purzeln hinab, und auch der Vater
       richtet sich wieder auf, klopft den Straßenstaub von den Hosenknien,
       schultert den Rucksack und geht, um im Rathaus die nächste Führung
       mitzunehmen.
       
       Und die Bremer? Die begegnen dem bizarren Schauspiel mit hanseatischem
       Gleichmut: Was soll’s, wem’s Spaß macht, man kann Irre nicht aufhalten. So
       was sieht man hier schließlich alle Tage. Da gibt es die vier jungen
       Niederländer auf Junggesellen-Tour, recht feuchtfröhlich
       übereinandergetürmt, bellend nach Bier, miauend nach deutschen Frauen. Der
       Hahn gibt ein paar gurgelnde Geräusche von sich. „Niet kotsen! Niet
       kotsen!“, brüllen die anderen hinauf, und der Turm löst sich sehr schnell
       wieder auf.
       
       ## Koreaner gestapelt
       
       Flinker sind da nur die stets flinken Koreaner auf großer Europarundreise,
       die von ihrem Tour Guide genau drei Minuten bekommen, um sich wieselschnell
       übereinanderzustapeln: drei Koreanerinnen und eine Schiesser-Einkaufstüte –
       und die famose Urlaubserinnerung ist im Kasten.
       
       Und erst die Amerikaner! Streit, Diskussionen, handgreifliche
       Familienkräche, wohin man auch in der Bremer Innenstadt schaut: „I’m the
       fat donkey? You are the fat donkey! I’m the cock, my dear!“
       
       All das hat sich längst herumgesprochen. Bis in die tiefste Provinz, aber
       auch bis in die Reiseführer. „In diesem verdammt hoffnungslosen
       Hanse-Moloch kann man sich verflucht langweilen – oder du machst eins
       dieser lustigen Fotos …“, bringt es der alternative, englischsprachige
       Reiseführer „Lonely Planet Germany“ auf den Punkt.
       
       Und lange schon ranken sich um das beliebte Fotomotiv die Mythen. In den
       sechziger Jahren sollen gar vier pilzköpfige Typen auf der Durchreise von
       Hamburg nach Liverpool übereinandergestapelt gesichtet worden sein: „Oh
       come together, yeah come together“, sollen sie damals geträllert haben.
       
       ## Krähen nach Döner
       
       Doch auch die Einheimischen geben sich dem Spektakel in schwachen Momenten
       hin. Nachts, in lauen Sommernächten, wenn aus den Bierlokalen die Werder-
       und Beck’s-Fahnen wehen, wenn die Leutchen aus dem Ratskeller taumeln und
       sich im fahlen Mondlicht schemenhaft etwas übereinandertürmt … – dann hört
       man in der Dunkelheit ein heiseres, zwischendurch von Schluckauf
       durchzogenes, nach einem Döner klagendes Krähen.
       
       Man selbst schlendert arglos durch die Nacht und spürt plötzlich am
       Hosenbein, auf Höhe des Knies, etwas äsen: „Böhrnsen!“, ruft man da
       unwillkürlich aus. Denn wer da fröhlich vor einem kniet, ist niemand anders
       als der sozialdemokratische Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen – und der
       halbe Stadtrat über ihm.
       
       9 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ella Carina Werner
       
       ## TAGS
       
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