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       # taz.de -- Regisseur über sexuelle Spielarten: „Wenn der Schmerz körperlich wird“
       
       > „Haftanlage 4614“ ist eine Doku über einen „Masochismus-Knast“. Es gehe
       > um Körper- und Selbsterfahrungen, sagt Regisseur Jan Soldat.
       
   IMG Bild: SM-Spiele beruhen auf Einwilligung. Mit echter Folter hat das nichts zu tun.
       
       taz: Herr Soldat, Ihr Film beginnt unvermittelt drastisch: Ein
       Gefängniswärter misshandelt einen Häftling mit einer
       Waterboarding-ähnlichen Technik. Das Bild steht frei - kein Kontext, kein
       Kommentar. Der Gedanke an Guantánamo drängt sich auf. Suchen Sie diese
       Assoziation bewusst? 
       
       Jan Soldat: Im Nachhinein kann ich sie nachvollziehen. Schwierig finde ich
       es, wenn damit Wertungen einhergehen: „Die Leute sind krank“ oder sowas.
       Mir selbst drängte sich die Assoziation allerdings gar nicht auf. Ich weiß
       ja, dass es sich um ein SM-Spiel handelt, das auf Einwilligung fußt. Da
       geht es um Körper- und Selbsterfahrungen, um Fantasien. Die Realität eines
       Guantánamo-Folterknasts ist etwas völlig anderes.
       
       Dennoch stürzen Sie das Publikum erstmal ins kalte Wasser. 
       
       Mir war es wichtig, dieses Bild gleich zu Beginn zu setzen. Später wäre es
       ein Schockeffekt. Das will ich vermeiden. Aus dem Nichts kann das Bild aber
       erstmal kommen. Und im weiteren Verlauf wird es emotional und intellektuell
       zugänglich: Da wird es auch mal lustig, der eigentlich spielerische
       Charakter der Ereignisse wird tritt zutage.
       
       Dieser Vermittlungsprozess ist buchstäblich eine Sache des Standpunkts:
       Ihre streng kadrierten, langen Einstellungen wahren meist Abstand. Die
       Totale ist bevorzugt, oft wird die Bildbreite von Gegenständen definiert. 
       
       Da geht es um Intaktheit. Ich will nichts wegschneiden, nicht vom Raum,
       nicht von den Leuten. Und ich will den Leuten nicht zu nahe zu treten, da
       bin ich vorsichtig. Das Recht auf eine Großaufnahme muss ich mir erst
       einmal verdienen. Der Film muss sie mit fortschreitendem Verlauf
       rechtfertigen können. Wenn ich mir einen Dokumentarfilm ansehe, der von
       Anfang an ganz nah an die Leute ranrückt, finde ich das unbehaglich: Ich
       fühle mich denen doch gar nicht nah. Nach zwei Minuten geht das noch nicht,
       nach zehn Minuten aber vielleicht schon, weil man den Menschen da schon
       erfahren hat. In meinen Filmen gehe ich deshalb immer erstmal von der Frage
       aus, wie ich mich dem, was mich interessiert, annähern kann.
       
       Geht es da auch um einen Schutzraum für das Publikum, das mit den sexuellen
       Spielarten, die Sie zeigen, vielleicht nicht vertraut ist? 
       
       Ich vermute, ein Bild in der Totalen lässt sich leichter ansehen als ein
       Detail. Wenn ich an die schreienden Gesichter beim Spanking dicht rangehe,
       lade ich das Bild enorm auf. Das überfordert dann auch. Diesen Effekt will
       ich abdämpfen. Außerdem hat das auch was Ehrliches und Klares: Hier steht
       die Kamera, dort ist das Geschehen und das kannst du dir angucken. Da geht
       es um Transparenz.
       
       Sie sprachen bereits die Nähe zu den Personen an. Oft handelt es sich um
       sehr intime Settings, die Sie filmen. Inwieweit ist die Kamera Bestandteil
       des Geschehens? 
       
       Schwer zu sagen. In meinem vorangegangenen Porträt „Der Unfertige“ über
       einen Fetischisten, der sich als Sklave anbietet, war die Kamera von Anfang
       an ein Instrument zur Selbstdarstellung des Protagonisten. In „Haftanlage“
       liegt die Sache etwas anders, da war auch die Erfahrung für mich eine
       andere, da es sich hauptsächlich um Rollenspiele handelt. Andererseits
       breche ich das auch immer wieder auf, wenn ich mit den „Inhaftierten“ rede
       und die aus dem Spiel heraustreten, darüber sprechen. Ein Freund meinte
       nach dem Film allerdings, ich sei darin schon auch Komplize der Wärter, vom
       Blickwinkel her. Ich sehe das dennoch anders. Beim Dreh eines anderen Films
       mit einem ähnlichen Thema gab es aber tatsächlich einen Moment, wo ich
       gemerkt habe, das macht den jetzt an, dass ich hier filme. Da war ich zu
       sehr „drin“ statt bloß abzubilden
       
       Sie ziehen sich also bewusst zurück, machen sich gewissermaßen unsichtbar? 
       
       Ich glaube nicht, dass man sich ganz zurückziehen kann. Aber ich finde
       Situationen wichtig, in denen die Person auf sich zurückgeworfen ist und
       nicht auf die Kamera reagiert. Da nehme ich mich dann auch zurück, mit dem
       Ziel, dass die Leute wieder bei sich sind und im Spiel weitermachen können.
       
       Sie streuen auch umwerfende, flüchtige Beobachtungen ein: Eine Geste
       vertrauter Zärtlichkeit zwischen den Wärtern, ein Gespräch über die WM. Wie
       kommen die zustande? 
       
       Ich inszeniere da nichts von wegen „So, jetzt macht mal“. Ob die Wärter das
       für die Kamera inszenieren, müsste man die beiden mal fragen. Beim
       WM-Gespräch habe ich die Kamera einfach hingestellt und mich entfernt.
       
       Ihre Filme zeigen queere Sexualitäten ohne auf naheliegende ästhetische
       Facetten queerer Subkultur oder deren utopischen Überschuss
       zurückzugreifen. Oft zeigen die Filme rustikal-deutsche Milieus. Drehen Sie
       Heimatfilme? 
       
       So denke ich da nicht. Aber ich will eher den Alltag und das Existenzielle,
       Körperliche solcher Erfahrungen beobachten. Und ich möchte auch nicht den
       Eindruck erwecken, dass sich da jetzt ein Hetero in dieser bunten Welt
       umschaut und das total faszinierend findet oder so. Ich mag es einfach,
       wenn der Schmerz sehr körperlich wird. Träumereien wie in „50 Shades of
       Grey“ interessieren mich nicht.
       
       Herr Soldat, verstehen Sie sich als ethischer Filmemacher? 
       
       Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja.
       
       6 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Groh
       
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