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       # taz.de -- Berliner Szenen: Jesus' Füße
       
       > Wenn der Schuh des Nachbars beim Beten stört: Eine Begegnung der anderen
       > Art in der U-Bahn.
       
   IMG Bild: Immer hereinspaziert - aber bitte mit sauberen Schuhen!
       
       „Nun ist besser“, sagt die Frau mit den hochgesteckten weißen Haaren, als
       mein Fuß wieder auf dem Boden steht. Wir sitzen nebeneinander in der
       U-Bahn, und ich hatte ein Bein in einem ziemlich rechten Winkel
       übergeschlagen, so, dass der linke Fuß neben dem rechten Knie lag. Die Frau
       hatte diesen Fuß dann mit gespieltem Interesse aus verschiedenen Winkeln
       betrachtet.
       
       „Ihr Schuh stert mich beim Beten“, erklärt sie mit einem Akzent, den ich
       für polnisch halte. „Er hat Lecher, man sieht den Strumpf.“ Da hat sie
       leider recht. „Es sind frische Strümpfe“, sage ich und versuche, meinen
       Ärger zu unterdrücken. Tatsächlich hält sie einen Rosenkranz zwischen den
       Fingern, und von ihrer Handtasche kündet ein Aufkleber, Abtreibung sei
       Mord.
       
       „Was glauben Sie, mit was für Füßen Jesus rumgelaufen ist“, ätze ich
       zurück, „und dann ist er auf einem Esel geritten, der hat gar nicht gut
       gerochen.“ Damit habe ich sie erst in Fahrt gebracht. „Nein, nein“, sagt
       sie, „Tiere riechen nicht schlecht. Ich bin aufgewachsen bei Krakau, da
       habe ich gemacht Männerarbeit. Mit Kiehe, Schweine, alles. Nur der Mensch
       riecht schlecht.“
       
       So geht das noch eine Weile. Erstaunlicherweise eskaliert das Gespräch
       nicht. Und irgendwie mag ich diesen Akzent. Schließlich wende ich mich ab
       und schließe die Augen.
       
       „Man misste machen eine Ausstellung mit den Mustern von Sohlen“, sagt meine
       Sitznachbarin, und ich mache die Augen wieder auf. „Sehr interessante
       Muster, ich beobachte sie jeden Tag. Aber nur Schuhe von Männern, weil die
       sitzen immer so wie Sie. Man kennte machen eine Ausstellung im U-Bahnhof.“
       
       Langsam wird sie mir sympathisch, denke ich gequält und sage: „Ja, gute
       Idee.“ Ich muss sie freundlich angesehen haben, denn als sie aufsteht, sagt
       sie: „Sie haben gute Energie, junger Mann. Ich spiere das.“ Dann steigt sie
       aus. Ich überlege, ob ich das Bein wieder über das andere schlagen soll.
       
       7 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
       ## TAGS
       
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