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       # taz.de -- Essay Russische Krisenpolitik: Die Panik vor der Panik
       
       > Die Angst in Russland vor den Folgen der fehlenden Einnahmen ist groß.
       > Und fast jeder glaubt, dass der Westen sich gegen das Land verschworen
       > habe.
       
   IMG Bild: Ausgaben reduzieren oder nicht? Putin scheint einen Mittelweg zu favorisieren – T-Shirts in einem Geschäft in Moskau.
       
       Wenn man wie ich aus dem globalen Norden stammt, dann bedeutet ein
       Russlandbesuch eine seltsame Erfahrung. Als ich kürzlich dort war, stellte
       ich überrascht fest, dass die allermeisten Russen eine völlig andere
       Sichtweise auf die gegenwärtigen Entwicklungen in der Welt haben als die
       Mehrheit im „Westen“. Ihre Sorge gilt ganz anderen Dingen als den
       „unseren“.
       
       Gemeinsam scheint uns nur die Wahrnehmung zu sein, dass die rasant
       fallenden Preise für Öl und Gas in der Kombination mit dem Embargo Russland
       massiv unter Druck setzen – und zwar sowohl was Staatsausgaben angeht als
       auch den individuellen Konsum.
       
       In Russland glaubt fast jeder, und zwar abhängig von seiner politischen
       Ausrichtung, dass der Westen sich gegen das Land verschworen habe – allen
       voran die USA im Bündnis mit Saudi-Arabien und Israel. Russland solle für
       seine Untaten „bestraft“ werden, dabei verteidige Russland nur auf völlig
       legitime Weise seine Interessen.
       
       Im Mittelpunkt der Debatte steht natürlich die Ukraine, im geringeren Maße
       aber auch Syrien und Iran. Die Verschwörungstheorie wird meiner Ansicht
       nach etwas übertrieben, immerhin begannen die USA bereits 1973 damit,
       sogenanntes Hightechöl zu fördern. Das war ihre Antwort auf den steigenden
       Ölpreis (womit sie wesentlich zum aktuellen Ölüberschuss beigetragen
       haben).
       
       ## Die Staatsreserven angreifen
       
       Von der russischen Außenpolitik indessen hört man in Russland wenig. Das
       hängt wohl damit zusammen, dass es kaum Widerspruch gegen die offizielle
       Außenpolitik gibt, selbst nicht von Leuten und Gruppen, die Putin an
       anderer Stelle durchaus kritisieren. Stattdessen wird intensiv diskutiert,
       wie der Staat mit den akut schrumpfenden Einnahmen umgehen sollte.
       
       Hier nun finden sich im Prinzip drei Positionen: Die eine will die Ausgaben
       signifikant reduzieren. Das könnte man als die neoliberale Position
       bezeichnen. Sie wird auch vom Finanzminister vertreten. Die zweite fordert,
       dass der Staat seine Reserven angreift und so unmittelbar den Druck
       vermindert, die Ausgaben zu reduzieren. Das wäre die sozialdemokratische
       Variante. Sie wird vom Minister für wirtschaftliche Entwicklung vertreten.
       
       Die dritte will nur die eine Hälfte der Reserven antasten und die andere
       Hälfte unberührt lassen. Diese Mittelwegpolitik würde Stabilität für die
       nächsten 18 Monate gewährleisten. Sie setzt darauf, dass die Preise für Öl
       und Gas bis dahin wieder ansteigen und/oder die Sanktionen wieder annuliert
       werden beziehungsweise weiträumig umgangen werden können.
       
       Alle drei Positionen werden innerhalb der relativ kleinen Gruppe von
       Entscheidern um Putin herum vertreten. Putin selbst scheint bislang den
       Mittelweg zu favorisieren. Bemerkenswert ist auch, dass die Debatte quasi
       öffentlich geführt wird. Jeder Russe, der sich für Politik interessiert,
       kennt sie, und auch der Presse wird viel durchgestochen. Aber die ist
       ohnehin diversifizerter, als im Westen weithin angenommen wird.
       
       ## Medwedjew hat keine Angst
       
       Doch diese halb öffentliche Debatte birgt auch eine Gefahr. Russische
       Unternehmer, Banken und auch die allgemeine Öffentlichkeit (zumal der
       wohlhabendere Teil) könnten schon bald in Panik verfallen, weil sie
       fürchten, dass die finanziellen Ressourcen abgezogen werden. Das wiederum
       würde zu einem Run auf die Banken und einer massiven Inflation führen.
       Greift eine solche Panik um sich, können keine der drei bereits skizzierten
       Optionen noch etwas ausrichten und also dem russischen Staat dabei helfen,
       den finanziellen Engpass zu überstehen.
       
       Am 14. Januar hielt Premierminister Dmitri Medwedjew im Rahmen der
       Wirtschaftskonferenz Gaidar Forum eine viel beachtete Rede. Er kündigte an,
       dass Russland den Mittelweg gehen werde, und bat alle, es in dieser
       Entscheidung zu unterstützen, um just die aufkommende Panik zu ersticken.
       Er beendete seine Rede mit dem berühmten Zitat von Franklin D. Roosevelt
       von 1933: „Das Einzige, das wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.“
       Die russische Regierung, sagte Medwedjew, habe keine Angst.
       
       Doch ob Statements aus dem Kreml ausreichen, eine Panik zu verhindern? Der
       Rede Medwedjews zumindest ist das noch nicht gelungen. Sie machte vielmehr
       deutlich, wie viele Leute damit rechnen, dass die Panik erst noch kommen
       wird. Wir haben es also mit einer Panik vor der Panik zu tun.
       
       Putin versucht nun, diese Panik vor der Panik einzuhegen, und zwar mit
       Maßnahmen, die er für eine sorgsam abgewogene, aber starke und klare
       Außenpolitik hält. Die Entscheidung, die sogenannte South-Stream-Pipeline –
       die Gas und Öl aus dem Schwarzen Meer von Russland nach Bulgarien
       transportieren sollte, nun aber von Bulgarien im Zuge der Sanktionen
       blockiert wird – durch eine Pipeline zu ersetzen, die von Russland in die
       Türkei geht, ist ein erster Schritt in diese Richtung.
       
       ## Eine Pipeline mit China
       
       Beide Pipelines tun der Ukraine finanziell weh, denn sie umgehen jeweils
       ihr Terrain. Damit entfallen für sie die mit einem Transit einhergehenden
       Einnahmen. Die Türkei hingegen wird mit dem gemeinsamen Energieprojekt zu
       einem wichtigen Verbündeten Russlands aufgewertet.
       
       Ein zweiter Schritt war die Entscheidung, sich mit China und anderen
       Ländern zu einigen, in Währungsgeschäfte mit deren eigenen Währungen
       einzutreten, um so die Fluktuation des Dollars zu umgehen. Ein Ergebnis
       dieser Geschäfte ist der Bau einer Pipeline durch Sibirien bis
       Nordostasien, die finanziell von China massiv gefördert wird. Auch so
       lassen sich die Sanktionen umgehen.
       
       Ein dritter Schritt besteht in der Ankündigung, dass
       S-300-Flugabwehrraketen in den Iran verlegt werden. Lange versprochen,
       hatte Russland diese Vereinbarung 2010 auf Eis gelegt – auf Druck des
       Westens hin. Nun aber schickt Russland sich an, seiner Zusage von damals
       nachzukommen. Das erlaubt Russland, Irans Einschluss in den
       Entscheidungsprozess in Westasien zu befördern.
       
       ## Waffen, aber keine Kontrolle
       
       Jeweils wird so Druck auf die USA ausgeübt und außerdem Saudi-Arabiens
       Versuch getestet, sich als der zentrale Staat der sunnitischen Araber zu
       etablieren. Nach dem Tod vor wenigen Wochen des 90-jährigen Königs Abdul
       und der Machtübernahme durch den 79 Jahre alten Prinz Salman hat die
       Diskussion über die Fragilität des Landes in den Medien bereits deutlich an
       Fahrt aufgenommen.
       
       In der Ukraine schließlich verfolgt Putin eine ambivalente Politik. Ohne
       die Separatisten in Donezk/Luhansk vollständig unter Kontrolle zu haben,
       stellt er sicher, dass diese militärisch nicht ausgeschaltet werden können.
       Für einen wirklichen Frieden verlangt Russland die Zusicherung der Nato,
       dass die Ukraine kein potenzielles Nato-Mitglied ist. In der Nato selbst
       gehen die Meinungen darüber auseinander. Alle spielen in der Ukraine auf
       hohes Risiko.
       
       Auf lange Sicht, so ist meine Vermutung, wird sich die Vernunft durchsetzen
       und eine politische Übereinkunft erzielt werden. Angela Merkel und auch
       Deutschland wollen ja eine politische Lösung, aber noch sind ihnen offenbar
       die Hände gebunden, sie auch herbeizuführen.
       
       Aus dem Englischen von Ines Kappert. Der Text erschien zunächst auf
       [1][agenceglobal.com]
       
       6 Feb 2015
       
       ## LINKS
       
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