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       # taz.de -- Filme aus Lateinamerika auf Berlinale: Im toten Winkel der Weltgeschichte
       
       > Die NATIVe-Sektion der Berlinale widmet sich dieses Jahr Lateinamerika.
       > Nicht bei allen ist der indigene Diskurs auf den ersten Blick zu
       > erkennen.
       
   IMG Bild: „Hamaca Paraguya“ war der erste Langfilm nach der jahrzehntelangen Militärdiktatur in Paraguay.
       
       Ein alter Mann und eine alte Frau treten aus dem Wald auf eine Lichtung.
       Zwischen zwei Bäumen spannen sie eine Hängematte auf und setzen sich. Sie
       beginnen sich zu unterhalten beziehungsweise vor allem aneinander und an
       der Welt herumzunörgeln. Mal beschwert er sich über die unbequeme Matte,
       mal schimpft sie auf einen Hund, der nicht aufhört, aus dem Off des Bildes
       in den Film hineinzubellen.
       
       Dann meint er plötzlich, ohne den Tonfall zu wechseln: „Wenn doch dieser
       Krieg endlich aufhören würde.“ Viel zu sagen gibt es zu dem Thema
       offensichtlich nicht. „Wie können eh nichts machen“, seufzt sie. Dann
       wechselt er das Thema: seine Brustschmerzen.
       
       Die gesamte Szene dauert eine gute Viertelstunde. Gefilmt ist sie fast
       durchweg in einer einzigen Einstellung, die beide Hauptfiguren und die
       Hängematte klein im Bildhintergrund zeigt, umgeben, fast erdrückt von einer
       übermächtigen Natur. Nur gelegentlich ist der wolkenverhangene Himmel zu
       sehen. Ein Gewitter zieht auf.
       
       Der Krieg, von dem die Rede ist, ist der Chacokrieg, den in den 1930ern
       Paraguay und Bolivien ausfochten. Allerdings tauchen die Kampfhandlungen im
       Film nicht auf. Die Kamera interessiert sich nicht für die Heldentaten
       großer Männer, sondern leuchtet mit geduldigem Blick die toten Winkel, die
       tote Zeit der Weltgeschichte aus.
       
       ## Geschichte: Erzählbar als kollektive Erfahrung?
       
       Eine radikale Geste ist das auch angesichts der Tatsache, dass „Hamaca
       Paraguaya“ 2006 der erste lange Spielfilm war, der in Paraguay nach dem
       Ende einer jahrzehntelangen Militärdiktatur im Jahr 1989 entstehen konnte.
       Anstatt der jungen Demokratie eine affirmative Nationalmythologie zu
       spendieren, stellt die Regisseurin Paz Encina in ihrem ersten Langfilm die
       Frage, ob Geschichte als kollektive Erfahrung überhaupt erzählbar ist.
       
       Man darf „Hamaca Paraguaya“ mit gutem Recht als einen modernen Klassiker
       des politischen Kinos bezeichnen. Wenn er dieses Jahr auf der Berlinale
       eine Wiederaufführung erlebt, wird er in einen neuen Zusammenhang gestellt:
       Zu sehen ist er in der 2013 gegründeten Nebensektion NATIVe, die sich alle
       zwei Jahre einer anderen Weltregion widmet (diesmal: Lateinamerika) und
       laut Website den kuratorischen Auftrag hat, „filmischen Erzählungen
       indigener Völker auf der ganzen Welt“ ein Forum zu bieten.
       
       Man kann sich einerseits fragen, weshalb die Berlinale diese auch in ihrer
       zweiten größeren Auflage weit hinten im Programm versteckte Sektion zu
       benötigen glaubt. Schließlich spräche nichts dagegen, stattdessen
       entsprechenden Filme in den drei Hauptsektionen mehr Platz einzuräumen.
       Andererseits: Wenn sie dafür sorgt, dass ein Film wie „Hamaca Paraguaya“
       noch einmal vor einem großen Publikum aufgeführt werden kann, dann
       erübrigen sich die Fragen nach der Existenzberechtigung der Sektion.
       
       ## Selbstreflexives ethnographisches Kino
       
       Dennoch irritiert, dass die Kuratoren eine ziemlich zentrale Unterscheidung
       nicht treffen: Auch in der diesjährigen Ausgabe bleibt unklar, ob es
       vorrangig um Geschichten von oder um Erzählungen über indigene Völker gehen
       soll. Dass beides nicht immer in eins fällt, erkennt man bei vielen Filmen
       des Programms auf den ersten Blick.
       
       Im Fall von „Hamaca Paraguaya“ stellt es bereits einen interpretatorischen
       Akt dar, den Film überhaupt mit indigenen Diskursen in Verbindung zu
       bringen. Und auch Claudia Llosa interessiert sich in ihrem (anders als der
       Großteil des Programms gelegentlich nah am Ethnokitsch gebauten)
       Jugenddrama „Madeinusa“ zwar durchaus für das synkretistische Brauchtum und
       die Mythen ihrer peruanischen Heimat; zu einer „indigenen Filmemacherin“
       macht sie das noch lange nicht.
       
       „As Hiper Mulheres“ („Die Hyperfrauen“) wiederum, ein beschwingter
       Dokumentarfilm über die Fruchtbarkeitsrituale des westbrasilianischen
       Kuikuro-Stamms, steht ganz in der Tradition eines selbstreflexiven
       ethnografischen Kinos, das sich der Tatsache bewusst ist, dass sein eigener
       Blick notwendigerweise von außen kommt, von nichtindigenen Vorurteilen
       geprägt ist, und das sich gerade deshalb Mühe gibt, die zu untersuchende
       Gemeinschaft an der Entstehung des filmischen Textes zu beteiligen.
       
       ## Viele Höhepunkte im Programm
       
       Ungefilterter, authentischer Selbstausdruck einer Volksgruppe ist kein
       einziger Film des Programms (genau, wie ja auch aus keinem einzigen
       Hollywoodfilm einfach nur die Gemeinschaft der Amerikaner spricht). Damit
       ist natürlich nichts gegen die Filme gesagt. Gegen „Hamaca Paraguaya“ –
       einen Film, der erst gar nicht zu wissen vorgibt, was das ist: ein Volk –
       schon gar nicht.
       
       Ein weiterer Höhepunkt der Auswahl ist in dieser Hinsicht sogar noch
       skeptischer: „Las niñas Quispe“ ist ein harsches, kompromissloses, dabei
       wunderschön fotografiertes Drama über das einsame Leben dreier Schwestern,
       die in der chilenischen Andenhochebene Ziegen hüten. Von der urbanen
       Moderne ebenso abgeschnitten wie vom Stammeskollektiv ihrer Vorfahren,
       beschränkt sich ihr Kontakt zur Außenwelt auf ein Minimum.
       
       Aber auch „As Hiper Mulheres“, ein Film, der einen deutlich affirmativeren
       Begriff von Gemeinschaft hat, ist toll: Wie da die Arbeit am Ritual
       beschrieben wird, die Rekrutierung der Teilnehmerinnen zuerst, dann das
       Einüben der Tänze; wie dann zwischendurch schon nur noch halb ritualisierte
       Interaktionen der Geschlechter gezeigt werden (die sexualisierten Spiele
       werden von den Frauen initiiert, die zu den Männern in die Hängematten
       springen); und wie sich der Film dann schließlich ganz dem hypnotischen
       Rhythmus des Rituals hingibt.
       
       8 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Foerster
       
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