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       # taz.de -- Debatte über Mindestlohn: Der Ausnahmenwahnsinn
       
       > Union und Wirtschaftsverbände tun alles, um die Löhne unten zu halten.
       > Niedrigverdiener und Minijobber sollen nicht geschützt werden.
       
   IMG Bild: Solch ein Schnitzel bekommt man kaum mit dem Mindestlohn. Der Kellner schon gar nicht.
       
       Zwei Schritte nach vorn und einen zurück – beim gesetzlichen Mindestlohn
       geht es zu wie bei der Echternacher Springprozession. 4 bis 5 Millionen
       Menschen haben in den 12 Jahren seit Einführung der Hartz-Gesetze mit der
       explosionsartigen Ausbreitung von Niedrig- und Armutslöhnen vergeblich auf
       den gesetzlichen Mindestlohn warten müssen. Nachdem er endlich eingeführt
       wurde, werden bereits nach wenigen Wochen schwere Geschütze aufgefahren, um
       ihn einzuschränken. Besonders scharf geschossen wird gegen das angebliche
       Bürokratiemonster der Dokumentation von Arbeitszeiten zur Kontrolle des
       Mindestlohns.
       
       Außerdem vergeht kaum ein Tag ohne Lamento der Wirtschaft. Die Taxiinnung
       beschwört das Ende vieler Taxiunternehmen; osteuropäische
       Transportunternehmer spucken Gift und Galle, weil sie ihren Fahrern beim
       Transit durch Deutschland 8,50 Euro pro Stunde zahlen sollen, ebenso viele
       Verleger, weil auch für Zeitungszusteller, die bei Wind und Wetter zu allen
       Tages- und Nachtzeiten „auf die Straße“ müssen, der gesetzliche Mindestlohn
       gelten soll, wenn auch erst nach einer großzügigen Übergangsphase.
       
       Und nun setzt die politische Mehrheitsfraktion im Bundestag, die CDU/CSU,
       noch einen drauf. Die Einkommensschwelle für den Nachweis der Arbeitszeiten
       soll von derzeit 2.958 Euro auf 1.900 Euro gesenkt werden. Der gesetzliche
       Mindestlohn wäre mithin für viele Beschäftigte – in der Mehrzahl Frauen –
       überhaupt nicht kontrollierbar. Noch schlimmer: Nach
       CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sollen die 7,4 Millionen
       Minijobber – davon zwei Drittel Frauen – ganz von der Dokumentation der
       Arbeitszeiten und damit der Kontrolle des Mindestlohns ausgenommen werden
       können.
       
       Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel schließt Korrekturen nicht mehr aus,
       will aber eine Schamfrist bis Ostern zugestehen. Ihre CSU-Kollegin
       Hasselfeldt fordert daher, die Kontrolle des gesetzlichen Mindestlohns
       durch den Zoll sofort auszusetzen, bis „Rechtssicherheit“ geschaffen sei.
       Hatte Bundesfrauenministerin Manuela Schwesig (SPD) noch gejubelt, dass mit
       dem Mindestlohn mehr als 2 Millionen Frauen geholfen würde, könnte sich das
       nun schnell als schöner Traum erweisen.
       
       Dabei hat die Bundesagentur für Arbeit gerade erst bei der Präsentation der
       Arbeitsmarktdaten festgestellt, dass „keine Bremsspuren durch die
       Einführung des Mindestlohns“ festzustellen seien. Die Zahl der
       sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liege sogar um 539.000 höher als
       ein Jahr zuvor. Das ist eine saftige Ohrfeige für alle Ökonomen, die den
       gesetzlichen Mindestlohn zu verhindern suchten, indem sie eine massenhafte
       Vernichtung von Arbeitsplätzen prognostizierten.
       
       ## Die vielen Zugeständnisse
       
       Vergessen wir auch nicht: Das Mindestlohngesetz wurde bereits durch
       vielfältige Ausnahmen massiv abgeschwächt. Jugendliche und
       Langzeitarbeitslose haben in den ersten 6 Monaten ihrer Beschäftigung auch
       in Zukunft keinen Anspruch. Außerdem kann von dem gesetzlichen Mindestlohn
       bis 2017 nach unten abgewichen werden, wenn Arbeitgeberverbände in
       Tarifverträgen niedrigere Stundenlöhne vereinbart haben oder noch
       vereinbaren – wie etwa für Leiharbeit, Friseurhandwerk, Wäschereien oder
       Fleischverarbeitung.
       
       Zudem wird bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro nur für wenige
       Vollzeitbeschäftigte, vor allem Singles, der Weg aus der Hartz-IV-Falle
       möglich sein. Altersarmut ist mit einem solchen Stundenlohn nicht zu
       vermeiden.
       
       Dies gilt umso mehr, je länger die tariflichen Ausnahmeregelungen von dem
       gesetzlichen Stundenlohn gelten, je später die Anhebung beginnt und je
       geringer sie ausfällt. Weiterhin gibt es erhebliche Mängel, was Anzahl,
       Qualifikation und Unterstützung der Kontrolleure sowie wirksame Sanktionen
       im Falle von Verstößen seitens der Arbeitgeber angeht.
       
       Auch die seit 2. Januar bei der Mindestlohn-Hotline des DGB eingegangenen
       4.000 Beschwerden machen den Erfindungsreichtum beim Umgehen des
       Mindestlohns deutlich: Brief-, Paket- und Zeitungszusteller müssen eine
       bestimmte Menge austragen, Reinigungskräfte eine Reinigungsleistung
       erbringen, die in den vorgegebenen Zeiten nicht zu schaffen ist. Zuschläge
       für besondere Belastungen, Schicht-, Nacht- oder Wochenendarbeit werden auf
       den Mindeststundenlohn angerechnet.
       
       ## Nahles wackelt
       
       Verschiedentlich wird ein Festgehalt pro Monat vereinbart, was zu
       Unterschreitung des Stundenlohns von 8,50 Euro führt. Auch erfolgt in
       einigen Fällen die Anrechnung von betrieblichen Zusatzleistungen – etwa
       Weihnachts- und Urlaubsgeld, Betriebsrenten oder vermögenswirksamen
       Leistungen – auf den gesetzlichen Mindestlohn; oder Arbeitszeiten werden in
       Pausenzeiten umgewidmet und dann natürlich nicht bezahlt.
       
       Der SPD ist dringend anzuraten, standhaft zu bleiben und dem
       Mehrheits-Koalitionspartner bei einer derartigen Verwässerung des bereits
       durchlöcherten Mindestlohngesetzes nicht auch noch den Steigbügelhalter zu
       machen. Bislang war es beruhigend, dass Bundesarbeitsministerin Andrea
       Nahles (SPD), unterstützt von ihrem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel,
       gebetsmühlenartig wiederholte, mit ihr werde es keinen Mindestlohn light
       geben. Doch sie scheint bereits umzufallen. Den Mindestlohn für
       ausländische Lkw-Fahrer hat sie schon gekippt. Die Gefahr ist mehr als
       groß, dass dies weitere Umgehungsmöglichkeiten eröffnet.
       
       Betroffen sind „Malocher“, die für Minilöhne ihre Gesundheit zu Markte
       tragen. Viel wird davon abhängen, wie nachhaltig die Gewerkschaften dieser
       Zerfledderung des Mindestlohns entgegenzutreten bereit sind – vor allem bei
       Verdi, aber auch bei den Gewerkschaften insgesamt ist die Verärgerung groß,
       und so spricht vieles dafür, dass das von Verdi gegründete und vom DGB
       fortgeführte Bündnis gegen Ausnahmen vom Mindestlohn, „Würde ist
       unteilbar“, wieder aktiviert wird. Das ist auch dringend nötig, und zwar im
       Verbund mit Sozial- und Frauenverbänden, kirchlichen Organisationen sowie
       Erwerbsloseninitiativen.
       
       2 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ursula Engelen-Kefer
       
       ## TAGS
       
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