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       # taz.de -- Reform des Sexualstrafrechts: „Armutszeugnis für den Rechtsstaat“
       
       > Die wenigsten Vergewaltiger werden angezeigt. Expertin Anita Eckhardt
       > erklärt, warum viele Frauen sich vor einem Prozess fürchten.
       
   IMG Bild: Wer eine Vergewaltigung anzeigt, riskiert als LügnerIn dazustehen.
       
       taz: Frau Eckhardt, die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung oder
       sexueller Nötigung sinkt seit Jahren. Wie erklären Sie sich das? 
       
       Anita Eckhardt: Das ist ein großes Problem. Aus unserer Sicht gibt es im
       Sexualstrafrecht Schutzlücken, die dazu führen, dass sexuelle Übergriffe
       gegen den Willen einer Person nicht per se strafbar sind. [1][„Nein“ zu
       sagen alleine reicht bislang nicht], es muss schon eine deutliche Gegenwehr
       geleistet werden, damit ein Übergriff als Vergewaltigung vor Gericht
       anerkannt wird.
       
       Das Sexualstrafrecht galt doch so auch schon vor zehn Jahren. Warum gibt es
       jetzt weniger Verurteilungen? 
       
       Die Frage ist: Traut sich eine Frau, Anzeige zu erstatten? Es war schon
       immer so, dass Frauen sich schämen für das, was passiert ist, und dass sie
       sich eine Mitschuld geben. Wenn Frauen sich im Vorfeld einer Anzeige
       beraten lassen, kann das natürlich dazu führen, dass ihnen ihre Anwältin
       oder ihr Anwalt davon abrät, weil unter den gegebenen Umständen keine
       Verurteilung möglich ist. Studien zufolge erstatten 85 bis 95 Prozent der
       Frauen gar nicht erst Anzeige.
       
       Selbst von denen, die zur Polizei gehen, erlebt nicht mal jedeR Zehnte eine
       Verurteilung. Vor 20 Jahren war das einer Studie zufolge noch jedeR Fünfte.
       Sind die Richter heute vorsichtiger? 
       
       Die Richterinnen und Richter müssen sich nach der oberen Rechtsprechung
       richten. So kann man zum Beispiel in einem Fall ohne Gewaltanwendung des
       Täters nur urteilen, wenn man mit der schutzlosen Lage des Opfers
       argumentiert. Diese schutzlose Lage wurde von hohen Instanzen aber so eng
       ausgelegt, dass kaum mehr danach geurteilt wird.
       
       Verändern auch Medienereignisse wie der Kachelmann-Prozess die
       gesellschaftliche Wahrnehmung des Themas? 
       
       Solche Prozesse prägen das, was gesellschaftlich besprochen wird. Der
       Kachelmann-Fall hat gezeigt: Eine Frau, die mit ihrer Anzeige keinen Erfolg
       hatte, wird als Schuldige angesehen. Viele Frauen befürchten, am Ende als
       Lügnerin dazustehen. Diese Angst ist durchaus berechtigt. Die sinkende Zahl
       von Verurteilungen ist natürlich auch alles andere als eine Ermutigung, zur
       Polizei zu gehen. Viele Täter dagegen müssen sich wenig Sorgen machen,
       jemals belangt zu werden.
       
       Der ehemalige Generalbundesstaatsanwalt Hansjürgen Karge sagte einmal in
       einer Talkshow, dass er seiner Tochter nach einer Vergewaltigung von einer
       Anzeige abraten würde. Die Zahlen geben ihm Recht. 
       
       Das war eine erschreckende Aussage. Ein Prozess ist natürlich wahnsinnig
       anstrengend für eine Frau, die einen Übergriff erlebt hat. So etwas zieht
       sich oft über Jahre. Immer wieder müssen die Frauen detailliert erzählen,
       wo sie berührt wurden und was sie getan haben. Die Wahrscheinlichkeit, dem
       Täter wiederzubegegnen, ist groß. Die Frauen müssen also wühlen in dem, was
       passiert ist. Das trägt bei traumatisierten Frauen mitnichten zur
       Verarbeitung bei. Insofern kann ich die Einschätzung von Karge verstehen.
       Für einen Rechtsstaat ist eine solche Aussage aber ein Armutszeugnis.
       
       28 Jan 2015
       
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