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       # taz.de -- Schlagloch Sicherheit: Freiheit und Handschellen
       
       > Die Hysterie nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ war unerträglich. Der
       > Terror in Nordnigeria bleibt dagegen ohne Folgen.
       
   IMG Bild: „Die größte Gefahr für die freie Meinungsäußerung ist die Regierung, nicht der Terrorismus“, lautete die Überschrift eines Artikels in der „Washington Post“
       
       Auf den Schock über die Anschläge in Paris folgte der Schock über die
       öffentlichen und privaten Debatten. Selbst ansonsten vernünftige Menschen
       reagierten mit Äußerungen, die unter der Last ihrer Panik torkelten. Die
       Wiener Tageszeitung Der Standard betitelte ihren Kommentar „Freiheit
       braucht Sicherheit“, ohne diese Losung in ihrer perfiden Logik
       durchzudeklinieren: Freiheit braucht Belauschung, Freiheit braucht
       Handschellen.
       
       Mit anderen Worten: Wir brauchen keine Freiheit. Keine Überraschung, dass
       Politiker, Experten und Law-and-Order-Befürworter die Morde
       instrumentalisierten, um ihre schon oftmals diskreditierten Behauptungen zu
       dringlichen Forderungen zu schmieden. Die Vorratsdatenspeicherung wurde von
       den Toten wiederauferweckt, ungeachtet dessen, dass sie sowohl vom
       Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof
       abgeschmettert wurde, so als hätten die Morde in Paris die Gerichte
       überstimmt.
       
       Der Rechtsstaat soll gewährleistet werden, indem er ausgehöhlt wird, gemäß
       dem seit Jahren befolgten Prinzip, die Freiheit durch die Einschränkung der
       Freiheit zu verteidigen. In einigen Ländern wurde Aufrüstung des
       Sicherheitsapparats im Eilverfahren beschlossen, unabhängig davon, ob die
       Maßnahmen ihren behaupteten Zweck überhaupt erfüllen können. Ganze
       Gesellschaften gossen sich einen potenten Cocktail aus Angst, Blindheit und
       Aktionismus hinter die Binde.
       
       Dabei sollte die erste Bürgerpflicht in Zeiten wie diesen das Nachdenken
       sein. Zorn, Trauer und Schmerz entledigen uns nicht der Verantwortung,
       möglichst nüchtern zu analysieren, Gründe auszuloten, nachhaltige, gerechte
       Lösungen zu suchen. Fakten sind wichtiger als Gesten, wenn man nicht möchte
       – wie geschehen –, dass Heuchelei auf dem Trauma aufsattelt. Auch eine
       ritualisierte Trauergestik bedarf blasphemischer Einwürfe. Das wäre ein
       Zeichen jener Stärke, jenes Muts, der allenthalben eingefordert wird. Die
       Militarisierung, die intensivierte Durchherrschung unserer Gesellschaften
       hingegen ist eine feige Reaktion, ebenso wie das Anwachsen von Islamophobie
       und Rassismus.
       
       ## Blindes Vertrauen
       
       Wie kann man etwa hierzulande nach den ausgiebig dokumentierten
       Erkenntnissen des NSU-Untersuchungsausschusses blind darauf vertrauen, dass
       die im Geheimen operierenden Sicherheitsbehörden unser aller Menschen- und
       Bürgerrechte schützen werden?
       
       Darf man sich das Recht herausnehmen, trotz der Verbrechen von Paris, die
       Zeitschrift Charlie Hebdo, die sich von ihren anarchistischen Wurzeln schon
       weit entfernt hatte, zu kritisieren? Nicht wegen der antireligiösen
       Haltung, sondern wegen der intellektuell dürftigen plakativen Provokation,
       die oft gerade das nicht leistete, was Satire in gelungenen Fällen vermag:
       die Herrschenden, die Selbstgerechten zu entlarven. Sich über die
       Schwächsten in einer Gesellschaft lustig zu machen, nur weil sie einem
       vermeintlichen archaischen Glauben anhingen, ist billig und unwürdig.
       
       Wie kann man so tun, als sei Terrorismus der größte Feind der freien
       Meinungsäußerung, da sie doch vor allem von ökonomischen Zwängen (Charlie
       Hebdo war de facto pleite, die Überlebenskämpfe der freien Printmedien sind
       Leserinnen und Lesern dieser Zeitung bestens bekannt) sowie von staatlicher
       Repression bedroht ist?
       
       Ein bemerkenswerter Artikel in der Washington Post war betitelt: „Die
       größte Gefahr für die freie Meinungsäußerung ist die Regierung, nicht der
       Terrorismus.“ Der Autor Jonathan Turley schildert darin eine Reihe von
       Fällen der Zensur unter Zuhilfenahme von Antidiffamierungsgesetzen. Die
       Verhaftung des Komikers Dieudonné M’Bala M’Bala wenige Tage später wegen
       seines Ausspruches „Je suis Charli Coulibaly“ war Beleg für diese
       Behauptung. Mörder können Journalisten umbringen, der Staat allein kann ein
       Recht zu Grabe tragen.
       
       ## Selektive Einfühlung
       
       Müssen wir unsere Empathie nicht hinterfragen, wenn sie als intimes Gefühl
       politisch enggeführt und ausgebeutet wird? Irritation, Misstrauen,
       letztlich Feindseligkeit entstehen aufgrund einer vermeintlich selektiven
       Empathie, die das Prinzip universeller Rechte infrage stellt. Ich werde nie
       vergessen, wie ich mit einigen Ulema, islamischen Rechtsgelehrten, zufällig
       an jenem Tag in Bombay zusammensaß, als der Angriffskrieg gegen den Irak
       begann, live übertragen von CNN.
       
       Ich werde nie vergessen, wie einer der jungen Männer angesichts der
       schrecklich abstrakten Bilder, die der Fantasie viel Raum ließen, ausrief:
       „Wieso tun sie uns das an?“ Und ein anderer zu weinen begann. Viele Stimmen
       haben in den letzten Wochen Zeichen der Anteilnahme und der Solidarität von
       muslimischen Organisationen und Respektspersonen gefordert. Das ist
       verständlich, ebenso verständlich ist die schwelende Frage im Herzen vieler
       Muslime: Wie viel Anteilnahme und Solidarität habt ihr gezeigt, als
       grauenvolle Kriegsverbrechen in Falludscha oder in Gaza begangen wurden?
       
       Man mag ein solches Gegenüberstellen von Opfern verwerflich finden, aber
       man sollte sich nicht darüber täuschen, dass es die Wahrnehmung in den
       ehemals kolonialisierten Gesellschaften (nicht nur in den islamischen)
       dominiert, wo genau darauf geachtet wird, wie die moralische Schere immer
       wieder auseinandergeht.
       
       Der genozidale Angriff von Boko Haram auf das Dorf Baga, dem wohl
       zweitausend schutzlose Menschen zum Opfer fielen (überwiegend Frauen,
       Kinder und Alte), wurde medial viel weniger wahrgenommen, von massenhaften
       Solidaritätskundgebungen ganz zu schweigen. Der Terror in Nordnigeria, wo
       die Bevölkerung zwischen obskurantistischen, blutrünstigen Fanatikern und
       einer korrupten, brutalen Armee zerrieben wird, ist für uns unvorstellbar,
       also bleibt er ohne Folgen. Angesichts der inszenierten Trauerarbeit im
       freien Westen kann ich durchaus verstehen, dass ein afrikanischer Kollege
       ausrief: „Je ne suis pas Charlot.“
       
       29 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilija Trojanow
       
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