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       # taz.de -- Auf fünf Zigaretten mit Houellebecq: Die Suche nach dem Paradies
       
       > Michel Houellebecq ist ein Seher, der seinen Lesern immer wieder den
       > Schlaf aus den Augen reibt. Eine Begegnung mit dem Autor.
       
   IMG Bild: Houellebecq in Köln
       
       KÖLN taz | Wer dieser Tage nach Köln reist, der erlebt die Stadt im bereits
       vor den „dollen Tagen“ sich manifestierenden Karnevalsgriff, und das nicht
       nur in sämtlichen angeschlossenen Kölsch-Kneipen. Es wird unter großem
       Polizeiaufgebot bunt demonstriert, was das demokratische oder weniger
       demokratische Zeug hält, und bei Letzterem bleibt das zentrale Gotteshaus
       im Zappendusteren, obwohl es auch sonst schon recht dunkel verwittert
       daherkommt, zumindest an der Außenfassade. Innen dagegen strahlt der Dom
       wie stets majestätische Ruhe aus. Nur hin und wieder wird sie von
       Handygeräuschen und quatschenden Menschen beleidigt.
       
       „Der Dom ist beeindruckend, ja, ja“, sagt Michel Houellebecq, der letzte
       Woche so viel Zeit wie wohl noch nie in Köln verbracht hat, um dort
       anlässlich des Erscheinens seines neuen Romans „Unterwerfung“ tapfer
       Orakelarbeit für die Medien zu leisten. Jetzt schließt er den obersten
       Druckknopf eines dunkelblauen Jeanshemds, das er gerade über ein
       mausgraues, aus der Zeit gefallenes Freizeithemd gestreift hat.
       
       Und dann kündigt er kurz und fast lebhaft und mit dem Anflug eines Lächelns
       tief drin in den Augenhöhlen an: „Das ist mein letztes Interview in
       Deutschland. Wir haben fünf Zigaretten Zeit, miteinander zu reden.“ Nicht
       im Dom, sondern im weitläufigen, immer noch, trotz aller wirtschaftlicher
       Debakel, geschäftigen Glaskasten des Neven DuMont Hauses. Der DuMont Verlag
       ist hier im kleinbürgerlichen Köln-Niehl nur eine von vielen Adressen am
       Empfang, an der Fassade des Hauses fehlt sein Schriftzug.
       
       Houellebecq ist für DuMont umsatztechnisch eine Art Garfield auf dem Feld
       der prophetisch gestimmten Alltagsliteratur, die ihren Leser, anders etwa
       als bei Paulo Coelho, nicht einlullt und für dumm verkauft, sondern ihm
       glänzend erzählte Brocken hinwirft, die den einen wahlweise ratlos oder
       hymnisch machen, den anderen in Rage versetzen. Doch wären da nicht
       kürzlich die brutalen Anschläge von Paris gewesen, die erwähnten Leser
       hätte es sich schnell wieder bequem machen können auf dem Diskussionsdiwan
       des Zeitgeistes.
       
       ## Den Problemen in der Realität zum Trotz
       
       Ein muslimischer Präsident pour la France, wie er in „Unterwerfung“
       auftaucht, eine Koalition von Muslimen und bürgerlichen Parteien gegen den
       Front National im Jahr 2022: Was für eine aparte und vielleicht doch ihrer
       Zeit ein wenig voraus seiende Idee! So ungefähr hätte der bald
       abschließende Minimalkonsens zum Roman gelautet – allen gesellschaftlichen
       Problemen in der Realität zum Trotz.
       
       „Es war der heftigste Buchstart, den ich je hatte“, kommentiert Houellebecq
       die vergangenen Wochen. „Ich bin müde, aber es wird nicht aufhören, ich
       werde keine Ruhe haben.“ Spürt er so etwas wie eine intellektuelle
       Verantwortung, nicht auf die Anschläge bezogen, doch generell? „Ich bin
       kein Intellektueller, ich vertrete keine Position. Ich schreibe Romane.“ Er
       saugt die Zigarette, zur Abwechslung mal zwischen Zeige- und Ringfinger
       anliegend, förmlich ein. Kunstvolle, langgezogene Rauchkringel folgen.
       „Überhaupt wird es noch härter kommen für Frankreich. Man geht in diesem
       Land nicht gut miteinander um.“
       
       Fünf Zigaretten. Als Nichtraucherin ist die Fünf-Zigaretten-Länge für
       dieses Gespräch nicht wirklich einzuschätzen, aber nun gut. Befund eins:
       Trotz aller Unbill – Michel Houellebecq wirkt nicht mehr so, dass man sich
       als fürsorglich gestimmte Interviewerin Sorgen um ihn machen müsste. Egal
       was über ihn kolportiert wird, wie verweht die Haartolle auch sein mag und
       wie traurig es für ihn war, einen engen Freund, Bernard Maris, bei dem
       Anschlag auf Charlie Hebdo zu verlieren: Der bald 57-Jährige sieht
       neuerdings zufriedener aus, stoisch war er früher auch schon. Und
       eigentlich wäre es ihm gerade sichtlich lieber, man würde es ihm
       kurzfristig abnehmen – das Orakeln über die Zukunft Frankreichs, ja ganz
       Europas, dessen politisches Konzept er pauschal verachtet.
       
       Er fragt: „Haben Sie nicht das Gefühl, dass sich Ihr Leben in nächster Zeit
       völlig verändern könnte?“ – „Was die politischen Rahmenbedingungen angeht,
       meinen Sie?“ Houellebecq bejaht sanft mit einem Kopfnicken, das leicht
       wackelig daherkommt. „Ich weiß es nicht“. – „Ich auch nicht“, sagt er und
       lacht unvermittelt, gar nicht bösartig, sondern warm temperiert. „Es kann
       alles mögliche passieren, mein neuer Roman beschreibt da nur eine Option.“
       
       ## Mettbrötchen, trocken
       
       Und diese Option, die freiwillige Islamisierung des Westens, ist die nicht
       eine provokante, wenn auch nicht besonders einfallsreiche Chiffre für
       verdruckste abendländische Sehnsucht nach einem eindeutigen Lebenskonzept,
       für ein Schlussmachen mit dem anything goes, ist das nicht eine Chiffre für
       eben die Unterwerfung unter einen Willen? Anders gefragt: Ist die reale
       Rückkehr des Religiösen nicht auch Angst vor der Auseinandersetzung mit dem
       eigenen, widersprüchlichen Selbst? „Glauben ist eine tolle Sache“,
       antwortet Houellebecq milde lächelnd, „als gläubiger Mensch brauche ich nur
       zu denken: Alles, was kommt, ist letztlich gut.“
       
       Ähnlich einem Wachtturm-Vertreter versucht er jetzt dieses „unschlagbar
       eindeutige Konzept“ zu bewerben. „Ich bin in den letzten Jahren mit dem Tod
       meines Hundes und dem meiner beiden Eltern eigentlich nicht klargekommen.
       Mit der Frage, wer diese Welt, so wie sie ist, erschaffen hat, auch nicht.“
       Himmel, hilf, hat er sich deshalb einem Glauben unterworfen? Ist Michel
       Houellebecq beim Schreiben von „Unterwerfung“ vielleicht zu irgendetwas
       konvertiert? Unschlagbar trocken antwortet er, der gerade ein Seelentürchen
       aufgemacht hatte, und mampft dabei ein bereitgestelltes Mettbrötchen: „Mich
       lassen wir am besten außen vor. Ich bin kein Atheist, ich bin eigentlich
       Agnostiker. Und ich mache, was ich will.“ Bücher schreiben zum Beispiel.
       Aber auch fotografieren.
       
       Diese Woche geht in Paris eine Fotoausstellung von ihm zu Ende. „Before
       Landing“, so der Titel, ist Houellebecqs berührender Versuch, sein
       schriftstellerisches Werk in Bilder zu fassen, angesiedelt zwischen
       Supermarktparkplätzen, Hochhausfluchten, Fremdenverkehrswerbung und
       elysisch anmutenden Gewässern. Dazu stellt er Zitate aus „Unterwerfung“.
       Eins lautet: „Genauso wie die meisten dieser Menschen hatte ich keinen
       echten Grund, mich umzubringen.“
       
       In seiner Fotografie, Farbe und Schwarz-Weiß und in vielfältigen Formaten,
       lässt er dem Betrachter mehr Freiheit, mehr Interpretationsspielraum als in
       seiner „missionarischen Literatur“, wie er sie selbst nennt. Houellebecq
       ist ein Seher, der sich und seinen Lesern, seinen Zuschauern, immer wieder
       den Schlaf aus den Augen reibt. Für ihn gilt: Es gilt das geschriebene
       Wort. Nicht das gesprochene. Und seine Fotos sind wirklich gut.
       
       ## Ein Glas, zwei Gläser Moët
       
       Die Frage nach dem nächsten Buch. „Schlagen Sie mir ein Thema vor“, sagt er
       und kramt einen überschaubaren Charmebolzen hervor. „Wie wäre es mit einem
       Roman über das Paradies?“ – „Bon, keine schlechte Idee.“ Ein Buch
       vielleicht über die Unschuld, über die Zeit weit, weit vor jeder Sintflut?
       Ohne dieses in „Unterwerfung“ beschriebene Gefühl des des Lebens müden
       François, ein Leben kurz vor der Sintflut, ja schon am Rande der Sintflut
       zu führen? Ein Buch, in dem die Liebe als universale Religion die Oberhand
       behielte und nicht das Dominanzstreben Einzelner? Ob er das durchhalten
       würde? Ein paradiesisches Buch? Es wäre einen Versuch wert, nuschelt er
       grinsend. Im Kopf der Interviewerin tauchen zuhauf Dämonen und Fabelwesen
       von Hieronymus Bosch auf.
       
       Houellebecq zerdrückt seine angekündigte fünfte Zigarette im Aschenbecher.
       Die Pressedame von DuMont klopft – ob es noch ein bisschen Champagner nach
       diesem Interviewmarathon sein dürfe? Er trinkt den Moët schnell aus. Ein
       Glas, zwei Gläser, seine Begleitung, eine sehr junge, très chic, très
       parisienne wirkende Frau drängt auf Abfahrt. „Noch zwei Zigaretten, ma
       chérie.“ Dann braust die Limousine mit Chauffeur und den beiden an Bord
       durch Köln-Niehl. „À la prochaine, bis zum nächsten Mal, Monsieur!“ Ab
       Montag gibt sich die französische Presse verspätet mit Michel Houellebecq
       ein Stelldichein.
       
       27 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harriet Wolff
       
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