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       # taz.de -- Accessoires aus Häkelspitze: Die Nadel wird heiß
       
       > Bei einem Berliner Modelabel ist Handarbeit cool. Die Frauen häkeln
       > Tangas, BHs und Schmuck. Im Hintergrund läuft türkischer Pop.
       
   IMG Bild: Eine Kette des Labels „Rita in Palma“ aus türkischer Spitze.
       
       BERLIN taz | Birgül Günaydin häkelt einen Tanga. Der schwarze, hauchdünne
       Faden setzt sich kaum ab von ihrer dunklen Kleidung, dem langen Rock, dem
       Kopftuch, unter dem die Haare verschwinden. Nur die Swarovski-Kristalle,
       die auf das Garn gefädelt sind, funkeln im Licht, wenn sie das Garn straff
       zieht und eine neue Reihe beginnt. „Ich häkele gern“, sagt sie und blickt
       auf die Reizwäsche. „Egal was. Ist mir doch egal, was die Leute anziehen.“
       
       Günaydin wohnt im Berliner Bezirk Neukölln. Dort ist auch „Ritas Häkelclub“
       – ein Verein, der extrem feine Handarbeiten für das Modelabel „Rita in
       Palma“ herstellt, Accessoires aus traditioneller türkischer Spitze, die aus
       feinstem Nähgarn gearbeitet werden.
       
       In der Türkei wird vor allem gehäkelt, wenn eine Hochzeit ansteht. Dann
       verzieren die Verwandten das Kleid der Braut mit einer Spitzenbordüre, sie
       umhäkeln Tischdecken, Kopftücher und Hausschuhe als Mitgift.
       
       Beim Label „Rita in Palma“ fing vor zwei Jahren alles mit aufwendigen
       Kragen aus Spitze an. Im Atelier in Neukölln hängen sie, fein säuberlich an
       seidenen Kleiderbügeln aufgehängt, neben gehäkelten Kugelanhängern an
       langen Silberketten. Nur ist derzeit der Bedarf an Tangas, Büstenhaltern
       und Nipple Pasties – selbstklebender Schmuck für die Brustwarzen – größer,
       seit Rita in Palma mit einer Lingerie-Kollektion im Berliner Kaufhaus
       KaDeWe vertreten ist. In drei Abteilungen werden gehäkelte
       Spitzenaccessoires verkauft – der Tanga von Birgül Günaydin kostet dort
       über 200 Euro.
       
       ## Uralte Kulturtechniken
       
       Der Verein Ritas Häkelclub ist aus dem Modelabel entstanden. Er soll in
       Zukunft aber unabhängig funktionieren, damit auch andere Designer Aufträge
       geben können. So werden uralte Kulturtechniken erhalten. Und natürlich geht
       es dabei auch um Arbeit. Und um Integration – keine einseitige.
       
       Ein Morgen im Atelier: Vier Frauen verzieren schwarze Lederhandschuhe mit
       glitzernden Spitzenornamenten, in den hinteren Räumen verpacken
       Praktikantinnen die Bestellungen, Studenten bringen die Homepage auf
       Vordermann, und die fünfte Häklerin kocht die Eier fürs Frühstück, während
       ihre fünfjährige Tochter mit einem aufblasbaren Gummiball spielt. Die Kita
       hat heute zu.
       
       Sobald Oliven, Käse, Salat, Brot und Tee auf dem Glastisch stehen,
       verteilen sich alle auf den drei pastellfarbenen Ledersofas. „Kein Hunger“
       ist keine Ausrede, hier geht es nicht nur ums Essen. „Am Anfang habe ich
       lieber ein Brötchen im Stehen gegessen“, sagt Labelchefin Ann-Kathrin
       Carstensen, die sich irgendwann fragte, was die Handarbeitstechniken der
       Neuköllnerinnen für ein Schatz sind und wie er besser zur Geltung gebracht
       wird. Inzwischen gehört das Frühstück fest zur Arbeitszeit.
       
       „Da haben die Frauen ein Stück ihrer Kultur zu uns gebracht“, sagt
       Carstensen. Es wird Deutsch gesprochen, das verstehen alle. Um Privates
       geht es, um den Verlobungsring mit dem großen Edelstein, den die
       Praktikantin letzte Woche noch nicht trug. Und um die alltäglichen
       Probleme. Eine fühlt sich benachteiligt, weil andere so selten Essen
       mitbringen. Eine andere will einen Geschirrspüler. Und der Elektriker war
       immer noch nicht da, um das bessere Licht einzubauen. Im Winter wird es
       früh dunkel und deshalb schwieriger, die einzelnen Maschen wie auch die
       richtigen Einstichstellen zu erkennen und fehlerfreie Arbeiten abzuliefern.
       
       Günaydin tritt in solchen Momenten als Sprecherin auf. Sie erzählt den
       anderen, dass die Neue es sich nicht leisten kann, jeden Tag Essen
       mitzubringen. Und findet den Geschirrspüler unnötig. Jeder könne doch
       einfach seinen Dreck selbst wegmachen. „Wir brauchen besseres Licht. Alles
       andere ist egal.“ Ihr Auftreten hat etwas ganz Natürliches. Dabei ist die
       37-Jährige nicht die Älteste und mit Abstand die Zierlichste. Während sie
       nur mit ihren weiß-grün gepunkteten Strümpfen von ihrer Vorliebe für
       Schwarz abweicht, tragen ihre Kolleginnen helle, engere Klamotten, die
       Kopftücher sind farblich aufs Outfit abgestimmt.
       
       Vielleicht liegt es daran, dass Günaydin am besten Deutsch spricht von
       allen. Schon mit 13 kam sie nach Deutschland, gemeinsam mit ihren fünf
       Schwestern. Hauptschulabschluss, Arbeit bei einer Reinigungsfirma. Die
       Eltern schlugen ihr vor, einen Mann aus dem Heimatdorf in der Türkei zu
       heiraten. Sie mochte ihn, Ismail, und seine Familie, obwohl er zwei Jahre
       jünger war. „Er ist sehr nett“, sagt sie immer wieder. „Und ein guter
       Vater.“ Vier Töchter haben sie, die kleinste ist sechs, die älteste 14.
       
       Damit er zu ihr nach Deutschland konnte, musste sie nach der Hochzeit zwei
       Jahre lang für zwei arbeiten. „Ich bin um zwei Uhr nachts aufgestanden und
       um 22 Uhr nach Hause gekommen“, sagt Günaydin. „Ich bin von Job zu Job
       gerannt, habe im Botanischen Garten und im Internat geputzt.“ Wer
       Familienangehörige nach Deutschland holen möchte, muss zeigen, dass genug
       verdient wird.
       
       Ismail Günaydin ist inzwischen Taxifahrer, und seine Frau wollte irgendwann
       nicht mehr putzen. Als Mutter, jeden Tag so früh raus, erzählt sie, runter
       in die U-Bahn-Stationen, wo sie morgens oft Betrunkenen begegnet, die sie
       anspuckten, ihr „böse Wörter“ nachriefen. „Wegen dem Kopftuch. Und weil ich
       so dunkel angezogen bin.“ Das erzählt Günaydin, betont aber, dass sie
       selbst damals nicht alle Deutschen in einen Topf geworfen habe: „Nicht alle
       sind so, das weiß ich.“ Sie verstehe sich sehr gut mit ihren deutschen
       Nachbarn.
       
       ## „Sie können nur Strickerinnen suchen“
       
       Vor einem Jahr saß Günaydin also beim Neuköllner Arbeitsamt, keine 500
       Meter vom Häkelclub entfernt, vor einer Sachbearbeiterin und versuchte ihr
       klarzumachen, dass sie nicht mehr putzen will. „Was können Sie denn?“,
       wurde sie gefragt. Günaydin dachte nach, erzählte dann zögernd, dass sie
       gern häkle. Und wurde nach Hause geschickt. Hartz IV.
       
       Etwa zur gleichen Zeit meldete sich Carstensen beim Arbeitgeberservice
       Neukölln an. Weil sie sich keine festen Mitarbeiterinnen leisten konnte,
       aber wusste, dass sie umgeben war von Frauen, die das konnten, was sie für
       ihr Modelabel suchte.
       
       Wochenlang scheiterte sie an den Sachbearbeitern. „Häklerinnen? Das haben
       wir nicht im System. Sie können nur Strickerinnen suchen.“ Nein, keine
       Strickerinnen. Schließlich gewann Carstensen den Kampf gegen das System der
       Bundesagentur für Arbeit – und Günaydin bekam einen Anruf. Das mit ihrer
       Handarbeit sei doch interessant.
       
       Inzwischen ist Ritas Häkelclub eine Vorzeige-Integrationsprojekt. Aus der
       Türkei stammende Frauen werden in die deutsche Kultur integriert. Die
       Deutschen in die türkische. Hartz-IV-Empfängerinnen in den Arbeitsmarkt.
       Traditionelle Handarbeit in die Haute Couture. Und vielleicht die Haute
       Couture auch in die traditionelle Handarbeit. Denn alle hoffen, dass ihre
       Kinder Häkeln irgendwann so cool finden, dass sie die Techniken selbst
       lernen und das Wissen nicht verloren geht.
       
       ## Jeden Tag im Atelier
       
       Günaydin sitzt jetzt jeden Tag im Atelier von Rita in Palma auf dem rosa
       Ledersofa, hinter ihr eine rosa CD-Anlage, aus der türkischer Pop tönt, und
       häkelt. Es sind die immer gleichen, schnellen Bewegungen. Dabei ist jedes
       einzelne Muster so kompliziert, dass ein Abschweifen der Gedanken unmöglich
       ist. Wie Magie wirkt es, wenn das Spitzenmuster Gestalt annimmt, wenn
       Rauten, Blumen, Ornamente allmählich erkennbar werden und daraus ein Tanga
       wird.
       
       Den Faden zigfach um den linken Zeigefinger gewickelt, windet Günaydin die
       kleine Häkelnadel mit dem feinen Garn einmal, zweimal um den Finger, sodass
       Luftmaschen entstehen. Dann zieht sie das Fadenende erst durch die Maschen
       und dann durch das bereits gehäkelte Gespinst. Dantel-Spitze und Igne Oyasi
       heißen diese Techniken. Günaydin hält nur inne, wenn es Zeit zum Beten ist.
       Dafür geht sie mit einigen ihrer Kolleginnen in einen anderen Raum.
       
       Bezahlt wird sie wie drei andere Frauen vom Häkelclub nach Mindestlohn, das
       Arbeitsamt kommt für drei Viertel des Lohns auf. Als Maßnahme gegen die
       Langzeitarbeitslosigkeit; im Fachjargon: FAW – Förderung von
       Arbeitsverhältnissen. Nach maximal zwei Jahren ist Schluss. Bis in einem
       Jahr muss Carstensen also so erfolgreich sein, dass sie Günaydin
       eigenständig bezahlen kann. Sonst müsste sie sich vom Arbeitsamt eine
       andere Frau zuweisen lassen.
       
       Im Moment sieht es gut aus. Das KaDeWe hat nachbestellt, die sechs Stunden
       Arbeit am Tag reichen nicht mehr aus. Deshalb häkelt Birgül Günaydin jetzt
       auch abends auf dem Sofa weiter an den Tangas. Ihr Mann lacht darüber,
       erzählt sie. „Nur den Kindern erzähle ich etwas anderes. Die sind noch zu
       jung für so was.“
       
       25 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Backes
       
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