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       # taz.de -- Bristoler Stadtteil Stokes Croft: „Wir machen unsere eigene Zukunft“
       
       > Stokes Croft, das ehemalige Arbeiterviertel der englischen Stadt,
       > entwickelt sich zur alternativen Bürgerrepublik. Das Motto ist: Think
       > Local!
       
   IMG Bild: Graffiti in Bristol.
       
       Das ehemals heruntergekommene Arbeiterviertel Stokes Croft im englischen
       Bristol ist heute ein Stadtteil ohne graue oder schwarze Wände – dafür
       überall Graffiti. An einer Wand prangt ein Jesus in Breakdance-Position.
       Nicht weit davon Banksys berühmtes „Mild Mild West“, eine Kritik an den
       massiven Polizeieinsätzen in England. Etwas die Straße runter steht an
       einer Wand: „Your Government is trying to fuck you over“.
       
       An einer anderen Ecke prangt über vier Mieter hoch eine grinsende
       Vogelscheuche, die einen Vögel auf der Hand hält und ihm Tee serviert.
       Darunter steht: „Für Bob. Ruhe in Frieden“. Gegenüber der Supermarktkette
       Tesco prangt in großen Buchstaben: „Denke Lokal. Boykottiere Tesco“ und „93
       Prozent der lokalen Bevölkerung sagen Nein zu Tesco“.
       
       Die Graffiti von Bob und gegen den Lebensmittelkonzern Tesco sind von dem
       Graffitikünstler Shaun Sepr. Er malt seit über zehn Jahren an Wände. Shaun
       sagt, er mag es, mit seiner Umwelt zu interagieren, seine Kunst direkt zur
       Diskussion zu stellen. Und er mag es, Zeichen zu setzen. Shaun gehört zu
       einer großen Szene von Künstlern.
       
       Sie malen politische Botschaften, künstlerische Gemälde und machen witzige,
       satirische Zeichnungen. „Mit dem „Boykottiere Tesco“-Graffito haben wir,
       glaube ich, etwas erreicht. Es ist dort seit vier Jahren“, sagt Shaun.
       Graffiti werden sonst schnell wieder übermalt. Shaun versteht sich als Teil
       einer Gemeinschaft, die den Stadtteil zu einer großen Galerie gemacht hat.
       
       ## Der Stadtteil war völlig vergessen
       
       Jamaica Street 35 im Stadtteil Stokes Croft. Ein zweistöckiges
       Ziegelsteinhaus aus den 60ern. „PRSC The New Building“ ist in gelben
       Buchstaben auf ein Schild gesprayt. Rechts davon die „PRSC Outdoor
       Gallery“, eine zehn Meter lange Graffitigalerie. Ein beiges Sofa steht
       davor, zum Setzen und Innehalten. Weiter rechts im nächsten Gebäude ist ein
       Geschäft. In schwarzer Schrift steht auf einem Schild „PRSC HQ“. HQ für
       Headquarter. Im Fenster Porzellanwaren. Tassen, Teller, Teekannen und
       Schalen. Über dem Geschäft steht: „The Selling Gallery“. Das Geschäft ist
       Hauptquartier der PRSC, der Peoples Republic of Stokes Croft. Chris
       Chalkley ist ihr Gründer.
       
       2007 hat Chris Chalkley in Stokes Croft eine eigene Republik ausgerufen.
       Das klingt verrückt, beeinflusst den Stadtteil seitdem aber sehr stark.
       Chris Chalkley und die PRSC kennt hier jeder. Es sind 20 sehr aktive
       Menschen. Doch Chris ist die treibende Kraft. PRSC ist seine Passion, seine
       Obsession. Wenn man mit ihm sprechen will, muss man das Geschäft verlassen.
       Es kommen ständig Leute, die Hilfe, Rat, Materialien zum Sprayen brauchen
       oder einfach von einer Idee erzählen wollen. Gespräche führt er lieber im
       nebenliegenden Gebäude. Es gehört auch zur PRSC, wurde 1950 gebaut, und
       früher wurden hier Kutschen produziert.
       
       „2007 sah das hier in Stokes Croft noch ganz anders aus“, erzählt Chris
       Chalkley. „Der Stadtteil war völlig vergessen. Es gab viele Probleme.
       Alles, was die Stadt nicht in den trendigen Vierteln haben wollte, baute
       sie hier.“ Unterbringungen für Obdachlose, Suppenküchen, wenige Geschäfte.
       Die Bausubstanz war marode, es gab viel Alkoholmissbrauch und viele Drogen.
       „Die Stadt kam nur, um die Wände grau zu streichen“, schimpft er. Er regt
       sich auf: über die Stadt, die Globalisierung, das kapitalistische System,
       über Macht, Neoliberalisierung und ihre katastrophalen Auswirkungen.
       
       ## Verkaufsschlager die Tasse mit der Queen
       
       Sein Lösungsansatz, die Idee der PRSC: „Gestalte deine eigene Zukunft. Im
       Lokalen. Ich dachte mir, die süßesten Früchte, wachsen auf dem härtesten
       Boden. Warum nicht hier beginnen?“, sagt Chris. Er war selbst
       Globalisierungsopfer. Er verkaufte Porzellanwaren aus England in England.
       Internationale Unternehmen importierten billiges Porzellan. Die
       Porzellanmanufakturen in England mussten schließen. Heute gibt es noch eine
       einzige in Südwestengland. Auch Chris musste sein Unternehmen aufgeben. Er
       malte ein antikapitalistisches Graffito auf die Wand, die heute die PRSC
       Outdoor Gallery ist. Damit fing alles an.
       
       „Leute fragten mich: Darfst du das hier hinmalen?“ erzählt er. Er durfte
       nicht: Die Stadt malte die Wand wieder grau. Er schrieb ein Pamphlet.
       Stellte es online und gründete mit Freunden und Künstlern die Peoples
       Republic of Stokes Croft. „Uns war klar, hier macht keiner mehr was. Wir
       müssen es selbst tun.“
       
       Das Pamphlet ist bis heute unverändert. Die PRSC will einen Nutzen für die
       Gemeinschaft schaffen, in dem sie die Interessen des Viertels vertritt. Das
       Lokale verändern. Im Kleinen arbeiten. Eine eigene Republik. Eine soziale
       Utopie. „Ein Viertel, das gemeinsam seine Angelegenheiten selbst regelt.“
       Die PRSC kauft die Gebäude in der Jamaica Street und verkauft dort
       Porzellan des letzten Herstellers in Südwestengland. Bedruckt sie mit
       politischen, kritischen und witzigen Aussagen. Der Verkaufsschlager ist
       eine Tasse mit der Queen und dem Aufdruck „Ich esse Schwäne“. In
       Großbritannien gehören bis auf wenige Ausnahmen alle Schwäne der Krone. Die
       Queen darf mit ihnen machen, was sie will. Die Monarchie ist für die PRSC
       ein Dorn im Auge und Ziel des Spotts.
       
       ## Die Lebensmittelbewgung entstand
       
       Die Idee gewinnt schnell Anhänger. Die Aktivsten arbeiten mit
       Graffitikünstlern und Hausbesitzern zusammen. Entwickeln Konzepte zur
       Identitätsbildung im Viertel: Sie malen alle Mülleimer im Viertel gelb an.
       Schaffen kleine Plätze zum Sitzen. Errichten eine zweite Galerie auf einem
       riesigen Verkehrskreisel. Graffitimalen wird ein besonders wichtiges
       Mittel: „Du kannst ziemlich viel Krach machen mit einem kleinen Pott
       Farbe“, sagt Chris. Andere Projekte kommen dazu. Ein paar Menschen gründen
       Coexist, ein soziales Unternehmen, und mieten Hamilton House, einen Komplex
       mit vier großen Gebäudeblöcken. Jahrelang stand er leer. Jetzt gibt es hier
       eine Fahrradwerkstatt, eine Kantine, Künstlerstudios, günstige Büros,
       Yogakurse, Tischtennisplatten und eine Gemeinschaftsküche, in der
       behinderte und obdachlose Menschen Kochkurse besuchen.
       
       Vier Jahre lang entwickelte sich Stokes Croft. „Dann hat sich Tesco in die
       Gemeinschaft gepöbelt“, sagt Chris. Tesco, ein multinationales
       Lebensmittelunternehmen, bekannt für schlechte Arbeitsbedingungen und
       Dampfwalzenmentalität. Die größte Handelskette in Großbritannien will eine
       Filiale mitten in dem alternativen Viertel bauen, das seine Wurzeln im
       Lokalen sieht. Die Lage spitzt sich schnell zu. Es gibt Hausbesetzungen,
       Shaun malt das Graffito direkt gegenüber auf einer Wand, es folgen mehrere
       Demonstrationen, und eines Nachts eskaliert die Situation: Es kommt zu
       brutalen Auseinandersetzungen mit der Polizei, den „Tesco Riots“.
       
       „Die Demonstrationen, die dann in Randale endeten, waren mehr als nur
       Gewalt“, sagt Chris. Tesco hat der Gemeinschaft seinen Willen aufgezwungen.
       Die Menschen hatten etwas entwickelt, aufgebaut. Die Straßen waren
       dominiert von lokalen kleinen Geschäften und Anbietern. Sie wurden durch
       Tesco bedroht. Am Ende baut der Konzern seine Filiale wider alle Proteste.
       „Doch uns wurde klar, wie wichtig jetzt Alternativen werden“ sagt Chris.
       
       Eine zweite Bewegung kommt zustande. Eine Lebensmittelbewegung. Überall in
       Stokes Croft entstehen kleine Läden und Restaurants. Sie beziehen alle
       Produkte von Bauern aus der Region, wenn möglich Bioprodukte.
       
       ## Ethisch vertretbar, nachhaltig, lokal
       
       Ein Restaurant davon ist Katie and Kim’s Kitchen. Katie und Kim haben das
       kleine Restaurant vor sechs Monaten eröffnet. Zuvor hatten sie aus einem
       alten Pferdewagen frische Scones auf der Straße verkauft. Viele kennen sie
       aus dieser Zeit. Nun gibt es hier Scones, Milchbrötchen, Suppen und belegte
       Sandwiches. „Wir verarbeiten, was die Bauern gerade im Angebot haben“, sagt
       Kim. Beide sind Mitte 20, wirken aber viel jünger. Sie bleiben nie stehen,
       wenn sie reden.
       
       Ständig muss etwas geknetet, gerührt oder aus dem Ofen geholt werden. In
       dem großen Raum gibt es nur einen großen Tisch. Wie an einer Tafel setzt
       man sich einfach dazu. Smartphones sind verboten. Die Küche ist nicht
       abgetrennt. „Essen und Kochen ist etwas Soziales. Das wollen wir hier
       leben“, sagt Katie, während sie Früchte für eine Marmelade schneidet.
       
       Elise ist oft hier. Sie sitzt am Tisch, trinkt einen heißen Kakao und
       philosophiert über diese neue Lebensmittelbewegung: „Ethisch vertretbar,
       nachhaltig, lokal, organisch und aus der Region, das ist das Ziel“. Gerade
       entwickelt sie mit einer Freundin neue Konzepte, um Essen mit Musik zu
       verbinden. „Wir wollen die Geschwindigkeit aus dem Essen nehmen.“ In der
       Zukunftswerkstatt Stokes Croft ist vieles machbar.
       
       24 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paddy Bauer
       
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