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       # taz.de -- Erster Haasenburg-Prozess: Der „freiwillige“ Missbrauch
       
       > Die Bewährungsstrafe für einen Ex-Haasenburg-Mitarbeiter wegen sexuellen
       > Missbrauchs geht in Ordnung. Die Urteilsbegründung nicht.
       
   IMG Bild: Robert R. verbirgt sein Gesicht
       
       LÜBBEN taz | Der erste Prozess gegen einen ehemaligen Erzieher der
       Haasenburg GmbH war lange erwartet worden. Über ein Jahr ist es her, seit
       das Jugendministerium Brandenburg dem Haasenburg-Betreiber die
       Betriebsgenehmigung entzogen hatte. Über anderthalb Jahre waren vergangen,
       seitdem die Staatsanwaltschaft Cottbus ihre Ermittlungen aufgenommen und
       seitdem 50 Beamte bei einer Razzia alle drei Standorte des Heimbetreibers
       durchsucht hatten.
       
       Doch gestern dauerte es nur wenige Minuten, dann erklärte Richter Rainer
       Rörig im Amtsgericht Lübben, die Verhandlung sei nun für die Öffentlichkeit
       geschlossen. Der Anwalt des Angeklagten, Michael Amman, stellte zudem den
       Antrag, dass selbst bei der Urteilsbegründung die Öffentlichkeit
       auszuschließen sei.
       
       Der Angeklagte legt eben erst den Aktenhefter nieder, mit dem er sich vor
       den Fernsehkameras geschützt hatte, da liest Staatsanwältin Jessica Hansen
       im Stakkato ihre Anklageschrift vor, als wollte sie diese Sache möglichst
       schnell hinter sich bringen. Sie liest die einzelnen sexuellen Handlungen
       vom Blatt ab, geht mitunter ins Detail.
       
       Hansen liest vor, wie der damalige Erzieher insgesamt sechs Mal an einer
       15-jährigen Haasenburg-Insassin sexuelle Handlungen ausgeübt hatte. Dabei
       sei es zum Geschlechtsverkehr gekommen, auf einem Stuhl, auf dem Rücksitz
       eines Autos, das der Angeklagte im Wald geparkt hatte, und im Dachgeschoss.
       In einem Fall habe er mit dem Mädchen Sex gehabt, obwohl eine weitere
       Insassin im Zimmer war.
       
       ## Öffentlichkeit wird ausgeschlossen
       
       Nach kaum einer Minute gibt Richter Rörig dem Antrag des Strafverteidigers
       statt, die Öffentlichkeit auszuschließen. Als Grund nennt er die sexuellen
       Details, die zur Fallerörterung nötig seien. Der Schutz der Privatsphäre
       des Angeklagten würde hier das Interesse der Öffentlichkeit überwiegen. Da
       waren freilich wegen der Anklageschrift bereits einige Details im Raum.
       Insgesamt wurde die Öffentlichkeit in der einstündigen Verhandlung zweimal
       ausgeschlossen.
       
       Richter Rörig verhängte schließlich eine Bewährungsstrafe von eineinhalb
       Jahren und folgte damit exakt dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Zudem muss
       der 29-jährige Täter 1.000 Euro an eine Behinderteneinrichtung zahlen. Das
       Opfer, inzwischen 16 Jahre alt, und seine Mutter waren nicht durch einen
       Nebenklage-Anwalt vertreten. Das Geschehen wurde nur von Verteidiger,
       Richter und Staatsanwalt bestimmt. Das Urteil ist rechtskräftig.
       
       Das Strafmaß scheint angemessen. Doch in ihren Begründungen lassen sowohl
       Richter wie auch Staatsanwältin durchblicken, dass sie die Gesamtsituation
       in den Haasenburg-Heimen verkennen. Das Opfer befand sich rund anderthalb
       Jahre in der Haasenburg-Niederlassung in Neuendorf am See. Der
       Bezugserzieher R., der als Ergotherapeut angestellt war, begann mit dem
       Mädchen im November 2013 die Beziehung, die dazu führte, dass sich das
       Mädchen auch Vergünstigungen im Form von Zigaretten verschaffte.
       „Einvernehmlich“ nennen Staatsanwältin und Richter eine solche Beziehung.
       
       ## „Einvernehmlich“ im geschlossenen System?
       
       Ist dies in einem geschlossenen System wie der Haasenburg möglich gewesen?
       Das Mädchen musste sich ihre Freiheiten nach dem dort herrschenden
       Stufenmodell „erarbeiten“. Wie freiwillig kann eine Beziehung zu einem
       Erzieher sein, dem die Insassen zu gehorchen hatten? Auf die Anhörung des
       Opfers als Zeugin verzichtet das Gericht, was der Richter ebenfalls mit den
       sexuellen Details begründete, die der heute 16-Jährigen unangenehm seien.
       „Das Urteil ist in Ordnung“, kommentierte das Mädchen den Richterspruch.
       
       Zugunsten des Angeklagten führt der Richter an, es handle sich hier „nicht
       um den klassischen Fall“ vom Missbrauch Schutzbefohlener, wie ihn sich der
       Gesetzgeber vorgestellt hat. Inzwischen übt der Angeklagte einen neuen
       Beruf aus – ohne Kontakte zu Kindern.
       
       Auch an dieser Stelle lässt der Richter mangelndes Wissen aufscheinen: „Es
       gab kein Über- und Unterordnungsverhältnis.“ Davon kann niemand ausgehen,
       der sich näher mit der über zehnjährigen Skandalgeschichte der
       Haasenburg-GmbH beschäftigt hat. Es habe eine emotionale Bindung bestanden,
       bekräftigt der Richter dennoch, die „offenbar beidseitig war“.
       
       ## "Sie war damals fünfzehn"
       
       Auf dem Gerichtsflur angesprochen, ob es ein Liebesverhältnis war, sagte
       das Opfer, sie fände es richtig, dass R. verurteilt worden sei. „Sie war
       damals fünfzehn“, ergänzt ihre Mutter. Noch vor Urteilsverkündung sagte sie
       der taz, dass bei einer 15-Jährigen schwerlich von einer einvernehmlichen
       „Liebesbeziehung“ gesprochen werden könne. Sie erzählt, dass der Erzieher
       R. ihr eines Tages am Telefon eröffnet habe, dass er eine Beziehung zu
       ihrer Tochter eingehen wolle. Da habe sie die Polizei eingeschaltet. Mit
       anderen Erziehern der Haasenburg sei sie zufrieden, räumt die Mutter ein.
       
       Der Vorfall ereignete sich im November 2013. Nur einen Monat später
       entzieht das Ministerium in Potsdam dem Betreiber die Betriebsgenehmigung.
       Die Tat geschah also in einer Zeit, in der die Firma längst in der
       öffentlichen Kritik stand. Hätte das strafwürdige Verhältnis also durch
       entschiedeneres Verhalten der Behörden verhindert werden können? Im Juni
       2013 dokumentierte die taz brisante Unterlagen des Betreiber. Nur zwei Tage
       später sah sich die damalige Ministerin Martina Münch (SPD) genötigt, eine
       Untersuchungskommission einzuberufen.
       
       Dennoch agieren die Behörden bis heute unglaublich zäh. Auch die
       Staatsanwaltschaft selbst, die mit der Aufklärung befasst ist. So bestritt
       die Oberstaatsanwältin Petra Hertwig zunächst gar die Grundlage für
       Ermittlungen. Noch Tage nach dem taz-Bericht sagte sie, dass sie „keinen
       Ermittlungsansatz“ gegen die Haasenburg-GmbH sehe.
       
       ## Panikattacken bei LDS-Autokennzeichen
       
       Dabei leiden bis heute viele der ehemaligen Insassen von Heimen der
       Haasenburg-GmbH, wie taz-Recherchen belegen. Eine junge Frau aus Sachsen
       berichtete, was sie bis heute zu erdulden habe. Sie bekomme schon Panik,
       wenn sie auf der Straße ein Auto mit Kennzeichen LDS für „Landkreis
       Dahme-Spreewald“ sehe – wie sie die Fahrzeuge der Mitarbeiter der
       Haasenburg-GmbH hatten.
       
       Eine andere ehemalige Heim-Bewohnerin, die in einer Stadt nahe der
       polnischen Grenze wohnt, berichtet, sie begegne auf der Straße immer wieder
       einem Mann, in dem sie einen ehemaligen Mitarbeiter des Heims
       wiederzuerkennen glaubt. Sie fühle sich verfolgt. Sie habe nach ihrer
       Strafanzeige im August 2013 nichts mehr von der Staatsanwaltschaft gehört.
       
       Eine junge Frau, die von 2009 bis 2011 in einem der Haasenburg-Heime lebte,
       berichtet, sie habe Strafanzeige wegen ihrer dortigen Behandlung stellen
       wollen. Sie sei jedoch im November 2013 bei der Polizeiwache Potsdam-Mitte
       abgewiesen worden. Die Beamten hätten ihr erklärt, Anzeige könne nicht
       jeder erstatten. Das Gericht suche sich die Leute aus, mit dem es sprechen
       wolle. Auf Nachfrage erklärte die Potsdamer Polizeidirektion, es seien
       keine ehemaligen Bewohner der Haasenburg-Heime weggeschickt worden.
       Offenbar besteht nach wie vor bei Teilen der Behörden Skepsis gegenüber
       Haasenburg-Opfern.
       
       ## Lob von der Staatsanwältin
       
       Die Haasenburg-GmbH hingegen erhält Lob. Staatsanwältin Hansen zollte den
       Betreibern Anerkennung, dass sie nach Bekanntwerden des Missbrauchs dem
       späteren Angeklagten umgehend kündigten – als wäre es nicht eine
       Selbstverständlichkeit, jenen Mitarbeitern zu kündigen, die sich einer
       Misshandlung Schutzbefohlener schuldig gemacht haben. Auf Nachfrage der taz
       wollte sich Hansen nach der Verhandlung nicht zu ihrer Einlassung äußern.
       
       Bisher sind drei Anklagen der Staatsanwaltschaft gegen Mitarbeiter der
       Haasenburg-GmbH beim Amtsgericht Lübben eingereicht worden. Beim zweiten
       Prozess, der für Anfang März angesetzt ist, geht es um Körperverletzung.
       Laut Oberstaatsanwältin Hertwig sollen noch fünfzig Ermittlungen geführt
       werden. Auf das lange Schweigen der Staatsanwaltschaft angesprochen, sagte
       Hertwig der taz, dass dies ein gutes Zeichen sei. Denn das deute darauf
       hin, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien.
       
       Die Ermittlungen gegen den Geschäftsführer Mario Bavar und den Betreiber
       der Firma, Christian Dietz, seien noch offen. Sie gestalteten sich
       schwierig.
       
       20 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
   DIR Kai Schlieter
       
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