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       # taz.de -- Slavoj Žižek über „Charlie Hebdo“: „Der Liberalismus braucht die Linke“
       
       > Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek über den Terror von Paris und die
       > Bequemlichkeit gegenseitiger zivilisierter Toleranz.
       
   IMG Bild: Der Philosoph Slavoj Žižek kritisiert das gemeinsame Auftreten der Politiker in Paris als „heuchlerisch“.
       
       taz: Herr Žižek , in Ihrer Stellungnahme zu den Morden in Paris im New
       Statesman haben Sie Ihre Solidarität mit Charlie Hebdo zum Ausdruck
       gebracht. Wie sehen Sie die weltweiten Solidaritätsbekundungen?
       
       Slavoj Žižek : Das Pathos der umfassenden Solidarität, das sich nach den
       Pariser Morden explosionsartig ausbreitete, endete am 11. Januar im
       heuchlerischen Spektakel der Politiker aus der ganzen Welt, die sich an den
       Händen hielten. Die wahre Charlie-Hebdo-Geste wäre gewesen, auf dem Titel
       der Ausgabe von letztem Mittwoch eine Karikatur zu bringen, die sich
       spöttisch zeigt gegenüber diesem Ereignis: Netanjahu und Abbas oder Lawrow
       und Cameron und andere Paare, die sich leidenschaftlich umarmen und küssen,
       während sie hinter ihren Rücken die Messer wetzen.
       
       Sie haben geschrieben, die muslimischen Terroristen seien bloß
       verunsicherte Fundamentalisten, weil sie sich ständig durch den Spiegel,
       der den Westen ihnen vorhält, wahrnehmen. Wahre Fundamentalisten wie etwa
       die Amischen in den USA würden einfach den Westen und seine Karikaturen
       ignorieren. Was, wenn gar nicht der Fundamentalismus hinter dem Terror
       stünde? Glauben Sie, dass es um das Fehlen eines transzendentalen Sinnes in
       der postideologischen Welt geht? 
       
       Die Dinge sind sehr vieldeutig. Wenn man russische Antikommunisten fragt,
       welche Tradition für die Schrecken des Stalinismus verantwortlich ist,
       bekommt man zwei widersprüchliche Antworten. Einige sehen den Stalinismus
       (und den Bolschewismus generell) als ein Kapitel in der langen Geschichte
       der westlichen Modernisierung Russlands, eine Tradition, die mit Peter dem
       Großen begann (falls nicht bereits mit Iwan dem Schrecklichen), und andere
       suchen die Schuld in der russischen Rückständigkeit, das heißt in der
       langen Tradition des orientalischen Despotismus, der dort vorherrschte.
       
       Während also für die erste Gruppe westliche Modernisierer das organische
       Leben des traditionellen Russland brutal zerstört und es durch staatlichen
       Terror ersetzt haben, besteht für die zweite Gruppe die Tragödie Russlands
       darin, dass die sozialistische Revolution zur falschen Zeit und am falschen
       Ort in einem rückständigen Land ohne demokratische Tradition stattgefunden
       hat. Verhält es sich mit dem islamischen Fundamentalismus, der seinen
       extremistischen Ausdruck in Isis gefunden hat, nicht ähnlich?
       
       Mit welchem Phänomen haben wir es genau zu tun? Die westlichen Regierungen
       sind jedenfalls von ihm überrascht worden. 
       
       Die Behauptung, dass der Aufstieg von Isis das letzte Kapitel in der langen
       Geschichte des antikolonialen Wiedererwachens ist und gleichzeitig ein
       Kapitel im Kampf gegen die Art und Weise, wie das globale Kapital die Macht
       der Nationalstaaten untergräbt, ist zu einem Gemeinplatz geworden. Aber die
       Besonderheit des Isis-Regimes, die Angst und Bestürzung auslöst, ist die
       öffentliche Erklärung der Isis, dass die Hauptaufgabe der Staatsmacht nicht
       die Regulierung des Bevölkerungswohls (Gesundheit, Kampf gegen den Hunger)
       ist – sondern was wirklich zähle, sei das religiöse Leben und dass das
       ganze öffentliche Leben religiösen Gesetzen gehorchen müsse.
       
       Deshalb bleibt Isis gleichgültig gegenüber humanitären Katastrophen auf
       eigenem Gebiet. Nach dem Motto: „Kümmere dich um die Religion und das
       Wohlbefinden wird für sich selbst sorgen.“ Darin liegt die Kluft, die den
       Begriff der Macht von Isis von der modernen westlichen, sogenannten
       Biomacht, die das Leben regelt, trennt: Das Isis-Kalifat lehnt die Idee der
       Biomacht völlig ab.
       
       Macht das Isis zu einem vormodernen, verzweifelten Versuch, die Uhr des
       historischen Fortschritts zurückdrehen? 
       
       Der Widerstand gegen den globalen Kapitalismus sollte sich nicht auf
       vormoderne Traditionen stützen, auf die Verteidigung ihrer besonderen
       Lebensformen – eine solche Rückkehr zu vormodernen Traditionen ist schlicht
       unmöglich. Die Globalisierung durchwirkt bereits die Formen des Widerstand
       gegen sie: Diejenigen, die Globalisierung im Namen von Traditionen
       bekämpfen, tun dies in einer Form, die bereits modern ist. Sie sprechen
       bereits die Sprache der Moderne. Ihr Inhalt mag alt sein, aber ihre Form
       ist ultramodern.
       
       Also anstatt in Isis einen Fall von extremem Widerstand gegen die
       Modernisierung zu sehen, sollte man sie eher als ein Fall von pervertierter
       Modernisierung verstehen und in einer Reihe mit den konservativen
       Modernisierungen sehen, die mit der Meiji-Restauration in Japan begann. Das
       bekannte Foto von Baghdadi, dem Isis-Anführer, mit einer exquisiten
       Schweizer Uhr am Arm, ist hier emblematisch: Isis ist gut organisiert in
       Webpropaganda, Finanzgeschäften und so weiter.
       
       Diese hochmodernen Praktiken werden zur Durchsetzung einer
       ideologisch-politischen Vision verwendet, die weniger konservativ als
       vielmehr ein verzweifelter Versuch ist, übersichtliche, hierarchische
       Abgrenzungen zu fixieren, um die Religion, Bildung und Sexualität (strenge
       asymmetrischen Regulierung der sexuellen Differenz, Verbot der säkularen
       Erziehung) zu regulieren.
       
       Wenn, wie Sie sagen, das Verschwinden der säkularen Linken den Anstieg des
       islamischen Radikalismus erklärt, was kann dann der Westen tun, um das
       Problem mit dem globalen Terrorismus zu lösen? 
       
       Das ist mein Punkt – wir können ihn nicht besiegen, wenn wir innerhalb der
       liberal-demokratischen Koordinaten bleiben. Nur eine neue radikale Linke
       kann das. Erinnern Sie Walter Benjamins alte Erkenntnis, dass jeder
       Aufstieg des Faschismus von einer gescheiterten Revolution zeugt: Der
       Aufstieg des Faschismus ist das Scheitern der Linken, aber gleichzeitig ein
       Beweis dafür, dass es eine Unzufriedenheit, ein revolutionäres Potenzial
       gegeben hat, das die Linke nicht zu mobilisieren vermochte.
       
       Und gilt dasselbe nicht auch für den sogenannten Islamo-Faschismus von
       heute? Ist der Aufstieg des radikalen Islamismus nicht Korrelat zum
       Verschwinden der säkularen Linken in muslimischen Ländern? Im Frühling des
       Jahres 2009, als die Taliban das Swat-Tal in Pakistan einnahmen, berichtete
       die New York Times, dass diese einen Klassenaufstand organisiert hätten,
       der die tiefen Gräben zwischen einer kleinen Gruppe wohlhabender
       Grundbesitzer und deren landlosen Pächtern nutze.
       
       Wenn aber die Aktion der Taliban die Risiken im weitgehend feudalen
       Pakistan sichtbar machte, was hindert dann die liberalen Demokraten und
       Demokratinnen in Pakistan wie auch die USA daran, diese Missstände auf
       ähnliche Weise auszunutzen, indem sie den landlosen Bauern und Bäuerinnen
       zu helfen versuchen? Die traurige Tatsache ist, dass die feudalen Kräfte in
       Pakistan die „natürlichen Alliierten“ der liberalen Demokratie sind.
       
       Und was ist mit den zentralen Werten des Liberalismus: Freiheit und
       Gleichheit? 
       
       Das Paradox ist, dass der Liberalismus allein nicht stark genug ist, um
       diese Werte gegen den fundamentalistischen Ansturm zu retten. Der
       Fundamentalismus ist eine Reaktion – eine falsche, mystifizierende
       natürlich – gegen einen echten Makel des Liberalismus, und deshalb erzeugt
       der Liberalismus immer wieder neuen Fundamentalismus. Sich selbst
       überlassen, wird der Liberalismus sich langsam selbst untergraben – das
       Einzige, was seine Grundwerte retten kann, ist eine neue Linke.
       
       Um seine zentralen Werte wirklich zu retten, braucht der Liberalismus die
       brüderliche Hilfe der radikalen Linken. Dies ist der einzige Weg, um den
       Fundamentalismus zu besiegen, ihm den Boden unter den Füßen wegzufegen.
       Über die Morde in Paris nachzudenken, heißt also die Selbstgefälligkeit des
       toleranten Liberalen fallen zu lassen und zu akzeptieren, dass der Konflikt
       zwischen liberaler Freizügigkeit und Fundamentalismus letztlich ein
       falscher ist – ein Teufelskreis zweier Pole, die sich gegenseitig
       hervorbringen und bedingen.
       
       Was Max Horkheimer in den dreißiger Jahren über Faschismus und Kapitalismus
       sagte – „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom
       Faschismus schweigen“ –, sollte man auf den Fundamentalismus von heute
       anwenden: Wer nicht kritisch über die liberale Demokratie reden will,
       sollte auch vom religiösen Fundamentalismus schweigen.
       
       Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und Michel Houellebecq mit seiner
       Kritik an westlichen liberalen Gesellschaften, die er kombiniert mit der
       Ablehnung reaktionärer Alternativen wie der islamistischen oder der
       russischen? 
       
       Ja, auf jeden Fall. Es mag verrückt klingen, aber ich habe viel Respekt vor
       ehrlich liberalen Konservativen wie Hoeuellebecq, Finkielkraut oder
       Sloterdijk in Deutschland. Man kann von ihnen lernen – viel mehr als von
       progressiven Liberalen wie Habermas: Ehrliche Konservative haben keine
       Angst, zuzugeben, dass wir uns in einer Sackgasse befinden.
       
       Houellebecqs Buch „Elementarteilchen“ ist für mich das niederschmetterndste
       Porträt der sexuellen Revolution der 1960er überhaupt. Er zeigt, wie der
       freizügige Hedonismus sich verwandelt in ein obszönes Über-Ich der
       Verpflichtung, zu genießen. Selbst sein Antiislamismus ist ausgefeilter,
       als es auf den ersten Blick scheint.
       
       Vor langer Zeit erkannte Friedrich Nietzsche, dass sich die westliche
       Zivilisation auf den letzten Menschen hinbewegt, ein apathisches Geschöpf
       ohne Leidenschaft oder Engagement. Unfähig zu träumen, des Lebens müde,
       geht er keine Risiken ein, sucht lediglich Sicherheit und Bequemlichkeit,
       ein Ausdruck der gegenseitigen Toleranz: „Ein wenig Gift ab und zu: das
       macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
       […] Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber
       man ehrt die Gesundheit.“ – „ ’Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die
       letzten Menschen und blinzeln.“
       
       Aus dem Englischen von Tania Martini
       
       19 Jan 2015
       
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