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       # taz.de -- Debatte TTIP: Der „Markt“ soll's richten
       
       > Das Freihandelsabkommen mit den USA liegt in Trümmern. Die Proteste
       > könnten trotzdem zu schwach sein, um den Vertrag mit Kanada zu kippen.
       
   IMG Bild: TTIP-Kritiker sollten sich nicht zu früh freuen. Es wird einen Fortsetzungsroman geben
       
       Europa ist eine Zumutung, jedenfalls für US-Amerikaner. Da will man ein
       Freihandelsabkommen namens TTIP abschließen und dachte auch, man hätte
       einen Ansprechpartner – die EU-Kommission. Doch je länger die Verhandlungen
       dauern, desto deutlicher wird Washington, dass die Kommission wenig zu
       sagen hat, obwohl sie offiziell zuständig ist.
       
       Stattdessen reden ständig ungefragte Zaungäste dazwischen: einzelne
       EU-Staaten, EU-Parlamentarier, lästige Nichtregierungsorganisationen. In
       Hintergrundgesprächen geben kundige Amerikaner zu, dass sie nicht mehr
       hoffen, ein umfangreiches Freihandelsabkommen mit Europa abzuschließen. Bei
       dem Chaos!
       
       Auf europäischer Seite hat inzwischen die Dompteuse für das Chaos
       gewechselt: Cecilia Malmström heißt die neue EU-Handelskommissarin, die
       kein Neuling ist. 1999 zog sie ins EU-Parlament ein, und seither war die
       Schwedin immer in der europäischen Politik tätig. Malmström weiß, wie
       Europa funktioniert und dass am Ende stets ein Kompromiss steht.
       
       Es ist also eine interessante Konstellation, dass ernüchterte Amerikaner
       auf eine neue EU-Kommissarin treffen, die taktisch versiert ist. Allerdings
       sollten sich TTIP-Kritiker nicht zu früh freuen. Malmström wird auf sie
       zugehen – aber nur so weit es nötig ist.
       
       ## Taktisch kluge Kommissarin
       
       Denn Malmström glaubt an den „Markt“. Es ist aufschlussreich, wie
       schwedische Zeitungen die EU-Kommissarin beschreiben. Stets wird betont,
       dass sie eine „Liberale“ sei, denn sie gehört der schwedischen
       „Volkspartei“ an, die bei der letzten Wahl auf nur 5,4 Prozent kam und –
       wie früher die FDP – vor allem die Interessen der vermögenden
       Selbstständigen vertritt. Malmströms Einkommen passt jedenfalls zu dieser
       Perspektive: Sie verdient etwa 850.000 Euro im Jahr. In Schweden ist es
       üblich, über die Finanzen von öffentlichen Personen zu berichten und die
       summierten Einkünfte in jedem Porträt zu erwähnen.
       
       Malmström ist eine typische EU-Handelskommissarin, denn wie sie selbst
       feststellte, „haben vor mir nur Liberale diesen Posten innegehabt, oder sie
       hatten liberale Ansichten“. Damit beschreibt Malmström ein Grundproblem der
       EU-Handelspolitik: Sie wird von Handelspolitikern gemacht. Dies mag wie
       eine Tautologie wirken, hat aber Folgen. Denn für Handelspolitiker ist
       potenziell jedes Gesetz ein „nicht-tarifäres“ Handelshemmnis – und jede
       Direktinvestition ein Segen. Also werden alle Regeln hinterfragt, die in
       den USA und in Europa voneinander abweichen. Dies beginnt bei harmlosen
       Autoblinkern und endet beim gefährlichen Fracking. Nur als
       Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, die Handelspolitik würde von
       Umweltschützern gemacht. Die Globalisierung sähe anders aus.
       
       Im Februar steht die nächste Verhandlungsrunde zu TTIP an, aber faktisch
       liegt das Freihandelsabkommen mit den USA längst in Trümmern. Denn wie der
       Name „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ bereits sagt, sollte
       dieser Vertrag aus zwei Teilen bestehen: aus einem Abkommen zum Handel –
       und zum Investorenschutz. Doch über den Investorenschutz wird seit einem
       Jahr nicht mehr geredet, weil der Widerstand in einigen europäischen
       Ländern zu groß war. Der frühere Handelskommissar De Gucht hatte daher eine
       „Konsultation“ angesetzt, bei der jeder EU-Bürger seine Meinung sagen
       durfte.
       
       ## Milliarden für Investoren
       
       Nachfolgerin Malmström hat das Ergebnis in der vergangenen Woche
       veröffentlicht: Es gab knapp 150.000 Einsendungen, 97 Prozent waren
       negativ. Fast niemandem leuchtet ein, warum es für ausländische
       Großkonzerne eine Paralleljustiz mit privaten Schiedsgerichten geben muss.
       Das Risiko erscheint zu hoch, dass die Staaten immer wieder Milliarden an
       Schadenersatz zahlen müssen. Die Handelskommissarin reagierte flexibel: Der
       Investorenschutz steht weiterhin nicht auf der TTIP-Tagesordnung und soll
       jetzt gründlich überdacht werden. Bisher hat Malmström zwar nur Fragen
       formuliert, aber wenn sie ihre eigenen Fragen ernst nimmt, ist der
       Investorenschutz tot.
       
       Dies könnte wie ein Sieg der TTIP-Kritiker wirken, wenn die EU nicht auch
       noch mit Kanada über ein Freihandelsabkommen verhandeln würde, das den
       Namen Ceta trägt. Dieser Vertrag ist bereits fertig, soll ab Sommer
       ratifiziert werden – und enthält Klauseln zum Investorenschutz, die sogar
       noch weitreichender sind als bisherige Abkommen.
       
       Unternehmen könnten künftig auf Schadenersatz klagen, wann immer sie ihre
       „legitimen Erwartungen“ verletzt sehen, dass sie einen bestimmten Profit
       einfahren. Dieser Fall kann jederzeit eintreten: wenn eine Regierung den
       Mindestlohn erhöht, Sozialgesetze erlässt oder die Umweltstandards
       verschärft. Die Firmen könnten stets behaupten, dass dies eine „indirekte
       Enteignung“ wäre, was ihnen nicht nur ermöglichen würde, die
       Investitionskosten einzuklagen – sondern auch die vermeintlich „entgangenen
       Gewinne“. Da kämen schnell Milliarden zusammen.
       
       ## Schweden sehen kein Problem
       
       Zudem könnten nicht nur kanadische Firmen gegen EU-Staaten klagen – sondern
       auch US-Firmen, denn fast alle haben Tochterunternehmen in Kanada. Wenn
       Ceta gilt, wird TTIP nicht mehr gebraucht.
       
       Strategisch ist also entscheidend, ob im Sommer genug Widerstand gegen Ceta
       mobilisiert werden kann. Dies ist keineswegs sicher. Bisher gibt es zwar
       viel Kritik an den Freihandelsabkommen, aber sie stammt aus nur wenigen
       EU-Ländern. Die breite Masse hält sich zurück. Die EU-Kommission hat eine
       sehr erhellende Statistik über die 150.000 Antworten bei den
       TTIP-Konsultationen veröffentlicht: Rund 35 Prozent der Beiträge kamen aus
       Großbritannien, 23 Prozent aus Österreich und 22 Prozent aus Deutschland.
       Frankreich und Belgien folgten mit je mehr als 6 Prozent, die Niederlande
       mit 3 Prozent und Spanien mit 2 Prozent. In Osteuropa beteiligte sich fast
       niemand – und in Skandinavien auch nicht. Malmströms Heimatland Schweden
       kam auf ganze 125 Antworten, was umgerechnet 0,08 Prozent ausmachte.
       
       TTIP und Ceta sind inzwischen wie ein Fortsetzungsroman. Der Ausgang ist
       ungewiss – und das nächste Kapitel folgt bestimmt.
       
       21 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Herrmann
       
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