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       # taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Wir Kleinbürger
       
       > Die Kommentatoren der zivilisierten Mitte diagnostizieren bei
       > „Pegida“-Anhängern „kleinbürgerliche Ängste“. Sie reden dabei aber
       > genauso über sich.
       
   IMG Bild: Parallelgesellschaft in Dresden: Abgrenzen vom Islam und Überhöhung abendländischer Werte
       
       „Du Kleinbürger!“ – so ging eine Standarddenunziation in linken
       Auseinandersetzungen der sechziger und siebziger Jahre. Der Kleinbürger in
       den eigenen Reihen war der unsichere Kandidat, nicht richtig bereit für die
       revolutionäre Umwälzung des Lebens. Heute lautet eine gängige Ferndiagnose
       zur islamfeindlichen Multitude in Dresden et al., dass sich dort
       „kleinbürgerliche Ängste“ artikulierten. Die Kommentatoren der
       zivilisierten Mitte sprechen damit aber genauso über sich und ihre Ängste
       vor dem Kleinbürgerlichen. Denn vielleicht schlummert es in den Tiefen der
       eigenen Psyche ja auch?
       
       Der kleinbürgerliche Spießer sei „eine Größe, mit der wir überall zu
       rechnen haben“, schrieb der dänisch-deutsche Soziologe Theodor Geiger schon
       1931. Da niemand wirklich vor der Regression ins Kleinbürgerliche gefeit
       ist, muss der entsprechende Habitus anderen, schlichteren Gemütern
       zugeschrieben werden. Und um ihre kleinbürgerlichen Dämonen in Schach zu
       halten, analysieren sich die Geschmacksbürger der Mitte immerzu selbst. Von
       einer „Wiederkehr der Konformität“ ist die Rede, und die Zeit stellte
       neulich einmal mehr fest, dass die Menschen sich angesichts einer
       unübersichtlichen Welt „in Haus und Garten flüchten“.
       
       So gleichförmig, wie die Verspießerungsthese wiederholt wird, scheint es
       den aufgeklärten Bürger doch stark zu verunsichern, wenn die eigenen Kinder
       sich plötzlich nach biederer Sicherheit sehnen. Beruhigend kann da nur
       sein, dass deren Umgang mit Alltagsfetischen, schönen kleinen Dingen und
       biedermeierlichen Lifestyle-Modulen kokett, souverän und ironisch ist – im
       Unterschied zum authentischen Spießer aus den niederen Milieus. Bedrohlich
       ist die kleinbürgerliche Subjektivität aber vor allem deshalb, weil sie
       sich gerade nicht eindeutig einer bestimmten Klasse oder Schicht zuordnen
       lässt, sondern zwischen allen Stühlen ungebunden flottiert.
       
       Die linke Kritik des Kleinbürgers zielt auf seine Unzuverlässigkeit und
       Unberechenbarkeit, klassische marxistische Analysen betonen die
       identitätslose Mimikry, mit der Kleinbürger sich den gesellschaftlichen
       Verhältnissen anpassen. So wie der Kleinbürger alles werden kann –
       Großbürger oder Asozialer –, so kann umgekehrt jeder zum Kleinbürger
       werden. Wenn in Dresden eine Parallelgesellschaft mit begrenztem
       Bewusstsein ausgemacht wird, soll offenbar die Angst vor „Ansteckung“ durch
       den Kleinbürger-Virus gebannt werden.
       
       ## „Lernfähig bis zum Identitätsverlust“
       
       Mit der Abgrenzung von den sich Abgrenzenden wird der eigene Hang zu
       Orientalismus, Islamophobie und der Überhöhung „abendländischer Werte“ mit
       den Mitteln der third-person communication abgespalten. „Der Kleinbürger,
       das ist immer der andere“, schrieb denn auch Hans Magnus Enzensberger 1976
       in einer Kursbuch-Ausgabe mit dem Titel „Wir Kleinbürger“. Anstatt sich vom
       angeblichen Hinterwäldler abzusetzen, erkannte er eine „kulturelle
       Hegemonie“ des Kleinbürgerlichen, deren „Unaufhaltsamkeit“ daher komme,
       dass der Kleinbürger „lernfähig bis zum Identitätsverlust“ sei.
       
       „Niemand ist fähig, seine Ideologien, seine Kleider, seine Verkehrsformen
       und Gewohnheiten rascher zu ändern als der Kleinbürger“, so Enzensberger.
       Und er ist überall am Werk, auch Großbürger lebten kleinbürgerlich: „Ihr
       ’exklusiver‘ Standard ist bloß noch der von Kleinbürgern, die sich eine
       teurere Marke leisten.“ Selbst die linke Boheme rekrutiere sich aus dem
       Kleinbürgertum. Während in der aktuellen Debatte die Kleinbürger für
       provinzielle Enge stehen, verstand sie Enzensberger seinerzeit als
       „experimentelle Klasse par excellence“ mit einer besonderen „Fähigkeit zur
       Innovation“.
       
       Übertrieben affirmativ identifizierte sich der Schriftsteller mit dieser
       coolen Gruppe, auch die freischaffende Intelligenz gehörte für ihn dazu.
       Für die Diskussionen dieser Tage folgt daraus: Wenn wir alle schon längst
       vom Kleinbürgerlichen kontaminiert sind, muss der Versuch, sich davon durch
       Denunziation freizusprechen, vergeblich bleiben.
       
       15 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aram Lintzel
       
       ## TAGS
       
   DIR Islamophobie
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