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       # taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Agenten des Paranoia-Wachstums
       
       > Eine Frage nach dem Mordanschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift
       > „Charlie Hebdo“ in Paris: Helfen „westliche Werte“?
       
   IMG Bild: Wer sind „wir“, wer sind „die anderen“?
       
       Der Mordanschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo galt
       nicht nur den Getöteten. Gemeint waren – und sind – viele mehr. Das macht
       Angst. Und die Angst ist berechtigt: Wer die Freiheit der Meinung
       verteidigt, der ist das Ziel.
       
       Millionen haben auf Plätzen und im Internet ein Banner mit der Aufschrift
       „Je suis Charlie“ hochgehalten oder gepostet. Das kann man so verstehen,
       dass Menschen den Mördern von Paris defensiv aber nachdrücklich sagen, dass
       auch sie Charlie sind. Also genau wie die Ermordeten für die Freiheit der
       Meinung, der Satire, des subversiven Humors, der Religionskritik stehen.
       Dass die Terroristen also eine ganze Menge zu tun haben, wenn sie alle
       vernichten wollen, denen diese Freiheit wichtig ist.
       
       Die Gefahr ist, dass die berechtigte Angst von Leuten mißbraucht wird, die
       damit eigene politische Ziele durchsetzen wollen. So kann sie eine fatale
       Paranoia verstärken.
       
       Paranoia ist eine verzerrte Wahrnehmung, die davon ausgeht, dass eine
       andere Gruppe sich gegen einen verschworen hat und einen vernichten will.
       „Expansion der Paranoia-Zone“ nennt der Philosoph Peter Sloterdijk in
       seinem jüngsten Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ eine der
       Entwicklungen, auf die die Welt zusteuert. Sie ist das letzte, was die
       Weltgesellschaft brauchen kann, wenn sie die komplizierten
       Aushandlungsprozesse der Gegenwart einigermaßen in den Griff bekommen will.
       
       ## Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
       
       Deshalb ist es wichtig, die Strategien aufzuzeigen, die die Agenten des
       Paranoia-Wachstums aller Seiten betreiben. Die, die den Anschlag zu
       verantworten haben, weil sie Allah bedroht sehen - und die, die ihn nun für
       ihre Zwecke instrumentalisieren, weil sie Allah angeblich fürchten. Und
       die, die noch ganz andere Interessen haben. Es ist nicht banal, sondern
       wichtig, dass man auf der Differenzierung zwischen Moslems und Islamisten
       besteht. Es sind übrigens ja nicht nur Islamisten, sondern Ideologen aller
       Art, die Satire und Humor und die Freiheit der anderen Meinung hassen, weil
       sie darin eine Gefährdung der reinen Lehre sehen.
       
       Aber es geht um mehr: Sloterdijk führt in seinem Buch auf eine nüchterne
       Art aus, was sich im Moment vollzieht. Immer mehr Menschen drängen in den
       „Weltinnenraum des Kapitals“, die „Rechts-, Anerkennungs- und
       Anspruchszone“, wie er Wohlstandsgesellschaften nennt. Gleichzeitig drängen
       diese Gesellschaften manche bisherigen Teilhaber nach draußen – das soziale
       Netz wird weitmaschiger. Es werden mehr, die das Gefühl haben, ausgegrenzt
       und aus der Anspruchzone geschleudert zu werden. Was deutsche Pegida-Leute
       erst fürchten, haben manche französische Islamisten vielleicht schon
       abgehakt, weshalb ihnen „Lügenpresse“-Rufe nicht mehr reichen.
       
       Wer ist ihr Feind? Jemand, an den oder etwas, an das man nicht herankommt.
       Weshalb man Stellvertreterkriege anzettelt: Für Allah. Gegen Allah. Gegen
       Einwanderer. Gegen die Presse.
       
       Aber unter der Oberfläche geht es weder um Religion noch um die Aufhebung
       der Pressefreiheit. Wenn man heute noch ein „Wir“ konstruieren kann, dann
       sind wir die, die drin sind. „Die“ sind die, die draußen sind oder in Angst
       davor. Es geht also um die globale Aufhebung dieses Innen und Außen. Das
       einzige Vermittlungsinstrument ist nicht nur laut Sloterdijk:
       Wohlstandsbeteiligung.
       
       Das Problem ist, dass die „westlichen Werte“ das nicht hergeben.
       
       12 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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