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       # taz.de -- Freeclimbing im Yosemite-Nationalpark: In der Wand
       
       > Zwei US-Amerikaner gehen eine der gewagtesten Klettertouren. Sie
       > besteigen die Route am El Capitan ohne Aufstiegshilfen.
       
   IMG Bild: Tommy Caldwell in der Wand des El Capitan, genauer in Abschmitt 15 der The-Nose-Route.
       
       Wenn man [1][Kevin Jorgeson] so reden hört, dann könnte man meinen, er
       liege nach einer ganz gewöhnlichen Tageswanderung auf irgendeinem gut
       bewirtschafteten Zeltplatz in seinem Schlafsack. Sein Tonfall ist betont
       lakonisch, so als wolle er sich selbst davon überzeugen, dass das nichts
       Besonderes ist, was er und sein Partner [2][Tommy Caldwell] da gerade
       unternehmen.
       
       „Ist ziemlich windig hier“, sagt er, während seine Biwak-Zeltwand ihm an
       die Ohren schlägt wie das Hauptsegel einer Rennyacht im Sturm vor Kap
       Hoorn. Und: „Das waren ganz schön scharfe Kanten da draußen heute, morgen
       müssen wir mal Pause machen, um die Finger heilen zu lassen“, teilt er mit.
       
       Was man in dem Video seines [3][Online-Tagebuches] nicht sieht, ist, dass
       Jorgesons Zelt 150 Meter über dem Boden schwebt, eingehakt in die Spalten
       einer 300 Meter hohen nackten Wand. Es ist ein Geiernest zwischen Himmel
       und Erde, drei Quadratmeter Kunstfaser und Aluminium, die wohl nur ein
       Extremkletterer als gemütliche Schlafstätte empfinden kann.
       
       Es ist der siebte Tag eines Wahnsinnsunternehmens, einer alpinistischen
       Großtat, die Kletterkollegen von Jorgeson und Caldwell als die Expedition
       des Jahrhunderts bezeichnen. Am 27. Dezember sind die beiden Kalifornier in
       die Dawn Wall im Yosemite-Nationalpark eingestiegen, die wie die
       Glasfassade eines Wolkenkratzers senkrecht aus dem Talboden ragt. Die Dawn
       Wall, die so heißt, weil sie nur in den frühen Morgenstunden ein paar
       Sonnenstrahlen abbekommt, ist die denkbar schwierigste Route die berühmte
       Nose hinauf, an der jeder Kletterer, der etwas auf sich hält, sich einmal
       im Leben gemessen haben will. El Capitan heißt der Berg, der zum Mekka der
       besten Kletterer geworden ist.
       
       ## Letzte große Herausforderung
       
       Jorgeson und Caldwell versuchen als Erste, die Dawn Wall komplett frei zu
       klettern – eine der letzten großen Herausforderungen im Freeclimbing. Die
       Risse in der Wand, an denen sie sich hochhangeln, sind selten so groß wie
       eine Fingerkuppe und meistens messerscharf. An manchen Abschnitten müssen
       sie wie Spiderman zur nächsten Spalte springen.
       
       Für den gewöhnlichen Freikletterer ist die Bezwingung einer 30-Meter-Wand
       eine gelungene Expedition. Jorgeson und Caldwell reihen 30 solcher Routen
       direkt aneinander. Und alle 30 Abschnitte besitzen die denkbar höchsten
       Schwierigkeitsgrade in diesem Geschäft.
       
       Als die Handicap-Skala für den Yosemite Park angelegt wurde, war 5,9 der
       maximal schwierigste Klettergrad. Caldwell und Jorgeson klettern jeden Tag
       zwischen 5,12 und 5,14. Die Kletterwelt, deren Natur es ist, nach immer
       neuen Extremen zu suchen, ist sich einig, dass diese Tour das Schwierigste
       ist, das je ein Bergsteiger versucht hat. Kein Speedrekord und keine
       Sammlung von 8.000er Gipfeln kann da mithalten.
       
       ## Fünf jahre Vorbereitung
       
       Caldwell selbst, der als der vielleicht talentierteste Kletterer seiner
       Generation gilt, verlor in den fünf Jahren seiner Vorbereitung immer wieder
       den Glauben daran, dass es überhaupt machbar ist, war er sich da ausgedacht
       hatte. Erst als Jorgeson sich freiwillig meldete, sich ihm anzuschließen,
       gewann er das Zutrauen, es tatsächlich anzugehen. Der Kollege Alex Honnold,
       der den Geschwindigkeitsrekord an der Nose hält und der erst Mitte der
       Woche bei Jorgeson und Caldwell vorbeigeklettert ist, um Nüsse und
       Schokolade abzuliefern, sagt: „Die schwierigsten Passagen, welche die
       beiden klettern, sind schwieriger, als alles, woran ich mich je versucht
       habe.“
       
       Und doch stehen sie jetzt kurz davor, das Unmögliche zu meistern, ihren
       „Weißen Wal“ zu erlegen, wie Kevin Jorgeson die jahrelange Besessenheit der
       beiden von der Dawn Wall beschreibt. Wenn das Wetter im Yosemite Valley
       hält, könnten sie schon am Wochenende am Gipfel der Nose, die man von der
       anderen Seite auch ganz gemütlich bewandern kann, ihre Familien begrüßen.
       
       Die schwierigsten Abschnitte sind jedenfalls geschafft, insbesondere der
       15., den die beiden am Dienstag hinter sich gebracht haben, eine lange
       Traverse mit unmöglichen Sprüngen, rasiermesserscharfen Spalten und
       Eisbrocken, die aus der Wand brachen. 12 Stunden arbeiteten sich die zwei
       Männer am Abgrund entlang, drei Mal stürzte einer der beiden und musste die
       verpatzte Passage wiederholen. „Eigentlich kann man nur von Glück reden,
       wenn man da durchkommt“, sagte Jorgeson am Abend in seinem Hängezelt.
       
       ## „Sich etwas ausdenken, was unmöglich scheint“
       
       Für Tommy Caldwell ist das „Project Mescalito“ bereits der fünfte Rekord an
       der Nose, jener Wand, der er tatsächlich wie Captain Ahab dem Weißen Wal
       ein Großteil seines Bergsteigerlebens gewidmet hat. Er ist als Erster
       schneller als 12 Stunden die Nose hinaufgestürmt, er hat mehrere Routen am
       Capitan erschlossen. Einmal hat er die Wand, für die durchschnittlich
       begabte Kletterer zwei oder drei Tage brauchen, innerhalb von einem Tag
       zwei Mal auf verschiedenen Routen begangen.
       
       „Das ist es, worum es für mich beim Klettern geht“, sagte Caldwell bei
       einem Interview vor dem Einstieg in die Wand, „sich etwas auszudenken, was
       unmöglich scheint, und irgendwie einen Weg zu finden, es möglich zu
       machen.“ Die Grenze des als machbar Gedachten haben Caldwell und Jorgeson
       jetzt schon verschoben. Gleich, ob sie in den nächsten Tagen noch den Weg
       zum Gipfel finden oder nicht.
       
       9 Jan 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.kevinjorgeson.com/
   DIR [2] http://tommyandbecca.blogspot.de/
   DIR [3] http://www.kevinjorgeson.com/blog/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Moll
       
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