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       # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Selber selbstreinigen
       
       > Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg,
       > hat die Selbstreinigung des Islam gefordert. Ein offener Brief.
       
   IMG Bild: Polizisten erweisen 2007 mit einem Trauerzug in Böblingen (Baden-Württemberg) ihrer in Heilbronn ermordeten Kollegin Kiesewetter die letzte Ehre.
       
       Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Sie haben sich kürzlich für eine
       Selbstreinigung des Islam ausgesprochen. Als bekennender Christ ist ihnen
       das Wort aus dem Evangelium des Matthäus (7,3) bekannt: „Warum siehst du
       den Splitter im Auge deines Mitmenschen, aber den Balken in deinem Auge
       bemerkst du nicht?“ In diesem Sinne erlauben wir uns als besorgte Bürger,
       sechs Fragen und Forderungen an Sie zu richten. Vorausgeschickt sei:
       
       Nahezu acht Jahre nach dem Mord an Michèle Kiesewetter und dem Mordversuch
       an Martin Arnold am 25. April 2007 in Heilbronn, über eineinhalb Jahre nach
       dem Beginn des Münchner Prozesses gegen Beate Zschäpe und weitere vier
       Angeklagte ist ungeklärt, wer die Täter waren. Es ist nicht einmal
       eindeutig geklärt, wer am Tatort war.
       
       Das zuständige baden-württembergische Innenministerium hat weder gegenüber
       dem Untersuchungsausschuss des Bundestags noch den Aufklärungsversuchen des
       Stuttgarter Landtags zur Aufklärung beigetragen: die nachgeforderten
       Ermittlungsakten der Soko-„Parkplatz“ sowie anderer Akten zum Attentat sind
       durch Innenminister Reinhold Gall (SPD) so verzögert beim
       Untersuchungsausschuss des Bundestags eingegangen, dass sie nicht mehr
       Gegenstand seiner Arbeit sein konnten.
       
       Die vom Landtag von Baden-Württemberg 2014 eingesetzte Enquetekommission
       glich einer Farce. Über Wochen wurde gestritten, ob man die Zuständigen
       überhaupt befragen dürfe. Dieser Streit gipfelte in Gutachten, die mit dem
       Ziel bearbeitet wurden, das Nachfrage- und Untersuchungsrecht der
       Enquetekommission zu beschneiden.
       
       Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Uli Schkerl, hat sich dabei in solche
       Widersprüche verstrickt, dass er in dem nun eingesetzten
       Untersuchungsausschuss nicht mehr tragbar ist. Die Mordermittlungen im Fall
       Kiesewetter gehören – so Stefan Aust und Dirk Laabs in ihrem Buch
       „Heimatschutz“ – zu den schlampigsten in der jüngeren bundesdeutschen
       Geschichte.
       
       ## Ein Schlag ins Gesicht der Opfer
       
       Sehr geehrter Ministerpräsident, es liegt in Ihrer Hand, dem Hickhack der
       Parteien um den richtigen Weg der „NSU“-Aufklärung ein Ende zu setzen. Ihr
       Schweigen und jeder Tag, den Sie zögern, ist ein Schlag ins Gesicht der
       Opfer, befördert Verschwörungstheorien und senkt das Vertrauen der
       BürgerInnen in den demokratischen Rechtsstaat. Daher regen wir an:
       
       (1) Die Akten zu Heilbronn dem Untersuchungsausschuss vollständig
       vorzulegen.
       
       (2) Die Öffentlichkeit wissen zu lassen, was die Sicherheitsbehörden an
       terroraffinen Netzwerken des Neonazismus in Baden-Württemberg festgestellt
       haben: Zu den Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene, der
       verbotenen Organisation „Blood & Honour“ sowie der Band Noie Werte, deren
       Stücke „NSU-Bekennervideos“ untermalten, zum Ku-Klux-Klan in der Polizei
       von Baden-Württemberg, zur Rolle der V-Mann-Einsätze von „Piatto,“ dem
       Anfang April 2014 tot aufgefunden „Corelli“, von Achim Schmid; zur
       „Neoschutzstaffel“ (NSS), zur „Standarte Württemberg“ – und zu einem
       Geheimbund in Heilbronn, der in den Akten beschrieben und bisher von Ihren
       Sicherheitsorganen nicht einmal benannt worden ist. Welche V-Männer waren
       in Baden-Württemberg im Einsatz? Wurde die Kameradschaft Karlsruhe, die
       Kontakte zum NSU-Umfeld unterhielt, von V-Leuten des
       Staats-/Verfassungsschutzes aufgebaut bzw. mitgetragen?
       
       (3) Die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, mit wem und worüber die
       ermordete Michéle Kiesewetter auf ihren Handys und in ihrem Computer
       Informationen ausgetauscht hat.
       
       (4) Lassen Sie die Öffentlichkeit wissen, was Thomas Bartelt, der Leiter
       der Einheit von Michèle Kiesewetter, was Kolleginnen und Kollegen aus der
       Einheit und benachbarter Sicherheitsorgane, also die beiden bisher nicht
       angemessen vernommenen Polizisten Daniel S. und Matthias S. in den Stunden
       des Attentats getan haben? Warum waren sie wann am Tatort?
       
       (5) Lassen Sie ermitteln, welche Dienste eventuell noch in der Nähe des
       Tatorts waren: wer und wie viele vom Verfassungsschutz oder von
       US-amerikanischen Diensten, etwa dem FBI, den Special Forces und Navy
       Seals? Wie konnte es sein, dass in kürzester Zeit eine MEK-Einheit aus
       Karlsruhe am Tatort war und Flüchtende per Hubschrauber verfolgen konnte?
       
       (6) Wie war es möglich, dass über Jahre unabhängig voneinander gemachte
       Zeugenaussagen zu möglichen Tätern (mindestens 4 bis 6 Täter) nicht
       zureichend weiterverfolgt wurden? Das gilt auch für das Phantombild, das
       das überlebende Opfer des Attentats, Martin Arnold, hat zeichnen lassen!
       
       In respektvoller Hoffnung auf eine Selbstreinigung des
       baden-württembergischen Staatsapparats.
       
       7 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
   DIR Hajo Funke
       
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