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       # taz.de -- Dicke und Dünne: Die Versuchung ist groß
       
       > Berlin ist eine einzige Fressmeile. Für immer mehr Menschen wird das zum
       > Problem - mit gesundheitlichen Folgen.
       
   IMG Bild: Voll fett. Da schmeckt die Currywurst
       
       Die Leuchtschrift „Gemüse-Kebap“ im Blick, beginnt der Weg. Auf dem Rad bis
       zum Zoo, vorbei an unzähligen Asia-Imbissen und einem Kuchenladen mit
       quietschrosa Torten im Schaufenster. Ich bin auf dem Weg zur Charité, fahre
       durch den Tiergarten. Am Brandenburger Tor riecht es nach Bratwurst, gleich
       dahinter gibt es Donuts to go. Augen, Nase, Kopf sind ständig
       Appetitmachern ausgesetzt – selbst die Eingangshalle der Charité ist eine
       Kaffeebar.
       
       Hier warte ich auf Marie. Sie ist Patientin im Adipositas-Zentrum. Wir
       stehen nebeneinander an der Tür und merken es nicht. Marie hat kurze blonde
       Locken und trägt einen pinken Minirock. Erst als Jürgen Ordemann, der
       Leiter des Zentrums, uns vorstellt, erkennen wir uns. Marie hat Adipositas,
       aber sie ist nicht mehr dick. Sie hat in den vergangenen zwei Jahren 70
       Kilogramm abgenommen. Trotzdem kommt sie noch regelmäßig in die Charité.
       
       Die Deutschen werden immer dicker, meldete Anfang November 2014 das
       Statistische Bundesamt. Jeder zweite Erwachsene hat Übergewicht. Jürgen
       Ordemann ist strenger. Ein paar Kilos zu viel findet er nicht so schlimm;
       das könne sogar eine Schutzfunktion haben. Adipositas allerdings nicht.
       „Das ist eine Volkskrankheit“, sagt der Chirurg. Ein knappes Viertel der
       Erwachsenen und sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten laut der
       Deutschen Adipositas-Gesellschaft als adipös. Sie haben einen
       Body-Mass-Index über 30.
       
       Ordemann behandelt oft Menschen mit einem BMI über 50 oder 60. Auch wenn
       seine Patienten nach der Behandlung deutlich an Gewicht verlieren, bleiben
       sie gefährdet – ähnlich wie trockene Alkoholiker. „Die Suche nach der
       richtigen Portionsgröße wird für die meisten Patienten immer ein Thema
       bleiben“, sagt Ordemann.
       
       Marie bestätigt das. Sie hat unzählige Diäten hinter sich, viel Verzicht
       und Frust. Jojo-Effekt, die Kilos wurden mehr. Marie hat Glück, dass sie
       außer Knieschmerzen bisher keine Folgen der 140 Kilo gespürt hat.
       Adipositas ist eine Krankheit, das starke Übergewicht beeinflusst den
       gesamten Stoffwechsel, die Organe, das Gehirn. Deshalb brauchen fast alle
       Patienten auch mehr als nur eine Ernährungsumstellung und Bewegung, um
       wieder gesund zu werden. Viele sind depressiv, denn das hohe Gewicht
       verändert auch die Hormonausschüttung. Dazu kommt die Ablehnung von außen.
       Vielen hilft nur eine Operation, um aus dem Teufelskreis rauszukommen.
       
       Auch Marie hat eine OP hinter sich. Die 30-Jährige hat einen Schlauchmagen.
       Ein großer Teil ihres früheren Magens ist abgetrennt vom Rest. Die Mengen,
       die sie heute essen kann, erreichen nur einen Bruchteil dessen, was früher
       hineinpasste. „Ich bin jetzt schnell satt, aber mit Verzicht hat es nichts
       zu tun“, sagt sie. Verzicht ist ein negatives Gefühl, nicht lange
       durchzuhalten.
       
       „Bei Menschen, die so stark übergewichtig sind, hilft kein anderer Weg“,
       ist Ordemann überzeugt. Die Wirkung aufs Gehirn sei genauso groß wie auf
       den gesamten Stoffwechsel. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten dennoch
       – wenn überhaupt – nur widerwillig und zwingen Patienten wie Marie durch
       einen Bürokratie-Marathon.
       
       Die Ärzte forschen noch immer daran, die Krankheit Adipositas komplett zu
       verstehen. Denn bis heute sei nicht klar, warum manche Menschen bei genau
       der gleichen Ernährungsweise stark zunehmen und andere schlank bleiben.
       Forschung ist nötig und Prävention. Die Bundesregierung plant deshalb ein
       neues Präventionsgesetz. Es soll 2016 kommen. Die Sozialkassen sollen mehr
       Geld pro Patient zur Verfügung haben, um Volkskrankheiten wie Übergewicht
       vorzubeugen. Die Pläne sehen im Schnitt statt drei Euro pro Versichertem
       sieben Euro vor. Klingt nicht nach Revolution.
       
       Im Zentrum steht mehr Aufklärung. Aufklärung über das, was an Imbissbuden,
       in Cafés und im Supermarkt lockt. „Das ist hochverarbeitete,
       superenergiereiche Kost, die unsere Körper überfordert“, sagt Ordemann.
       Denn unsere Körper sind so angelegt, dass sie Reserven bilden für knappe
       Zeiten. Unsere Genetik ist noch mit der der Steinzeitmenschen vergleichbar,
       unser Nahrungsangebot dagegen eher Science-Fiction.
       
       Marie hat gelernt, sich nicht mehr auf all die Versprechungen von
       Werbebannern und Ladenschildern einzulassen. Endlich traut sie sich, in der
       Öffentlichkeit zu essen, joggen zu gehen und Miniröcke zu tragen. Sie
       arbeitet als Musicaldarstellerin; doch heute viel erfolgreicher als früher.
       Heute werde ihr mehr zugetraut. Sie strahlt Lebensfreude aus, doch die
       Erzählungen haben auch etwas Trauriges. Dicke haben immer noch mit einer
       riesigen Menge an Vorurteilen zu kämpfen.
       
       Ortswechsel, es geht nach Prenzlauer Berg, diesmal zu Sophia. Vorbei an
       Dönerbuden und Smoothie-Ständen. Auch Sophia fühlt sich der ständigen
       Versuchung ausgesetzt. Auch sie hadert mit dem Zuviel – doch gleichzeitig
       mit dem Zuwenig.
       
       Sophie hat sich lange an strenge Essensvorgaben gehalten, so lange, bis sie
       kaum mehr etwas gegessen hat. Sie war magersüchtig. Dann hat sie den
       ständigen Verzicht nicht mehr ausgehalten, die Regeln und Einschränkungen.
       So passierte es immer häufiger, dass sie geflüchtet ist. Sie hat sich in
       ihrer Wohnung eingeschlossen und nur noch gegessen, Mengen an Süßigkeiten,
       an dicken Butterstullen und Käse. So lange, bis es genug war, um alles
       wieder zu erbrechen. Abführmittel erledigten den Rest.
       
       Sophia wollte das, was sie sich jahrelang verboten hat, wiederhaben – am
       besten alles auf einmal. „Bio-Magerquark hätte ich nie ausgekotzt“, sagt
       sie, denn der war ja zu gesund und zu teuer. Es waren eher die vermeintlich
       verbotenen Lebensmittel, die mit Zucker und Fett. Sophie nennt sie
       „Suchtstoff“, der immer und überall in Berlin verfügbar ist und ständig
       reizt.
       
       Das ist jetzt gerade richtig hart, denn sie hat sich auf Entzug gesetzt.
       Sie war einige Wochen in einer Klinik und hat versucht, wieder ein normales
       Essverhalten zu lernen. Jetzt ist sie draußen und den Versuchungen
       ausgesetzt. Essen ist lebensnotwendig und eigentlich selbstverständlich.
       Doch nicht für jeden.
       
       5 Jan 2015
       
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