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       # taz.de -- Seilbahnen in Lateinamerika: Skilifte gegen den Stau
       
       > In Medellín, in Caracas und nun auch in La Paz erfreuen sich Seilbahnen
       > enormer Popularität. Sie sind saubere und leise Alternativen zum
       > Autoverkehr.
       
   IMG Bild: Vorreiter: die Seilbahn in Medellín (Kolumbien).
       
       Iván Nogales lässt den Blick über den Talkessel schweifen. Der Himmel ist
       strahlend blau, der Illimani, der Hausberg von Boliviens Hauptstadt La Paz,
       schimmert schneebedeckt in der Sonne, und langsam kommt die gelbe Gondel
       den ersten Häusern näher. Nogales, ein kleiner Mann mit Hut und offenem
       Blick, schaut einer Frau beim Aufhängen der Wäsche auf der Dachterrasse zu.
       „Es ist wunderbar, über die Dächer von El Alto ins Tal von La Paz zu
       schweben. So lernt man die Stadt noch einmal neu kennen“, sagt der
       Theaterdirektor.
       
       Er lebt in der Stadt El Alto, rund sechshundert Höhenmeter über dem Zentrum
       des benachbarten La Paz. Nur ein paar Häuserblocks entfernt von der
       knallgelben modernen Seilbahnstation Parque Mirador befindet sich das
       Kulturzentrum Compa, wo Nogales arbeitet. Das Zentrum mit Theaterbühne,
       Kino, Proben- und Wohnräumen ist ähnlich wie die neue Seilbahnstation ein
       Referenzpunkt in Ciudad Satélite. Es ist eines der ältesten Viertel von El
       Alto, von hier aus hat man einen prächtigen Blick über den engen Talkessel,
       in den sich La Paz zwängt.
       
       „Eine zusätzliche Straße hätte man kaum bauen können. Dafür ist kein
       Platz“, sagt Nogales. Er lacht und deutet nach unten, wo sich zwischen
       Backsteinbauten schmale Straßen schlängeln; die Autos stehen im Stau. Neben
       Nogales sitzt Franklin Calle Escobar, ein Musiker, ihm gegenüber Alejandro,
       ein Schüler, der seit der Einweihung der Seilbahnlinie fast täglich mit Mi
       Teleferíco unterwegs ist. So heißen das Seilbahnsystem und auch die
       Betreibergesellschaft.
       
       „Sie bieten einen zuverlässigen Service für einen günstigen Preis“, sagt
       Escobar, während Alejandro den Kopf etwas gelangweilt hinter dem Schulheft
       verbirgt. Die Betreiber haben mit ihrem Fahrpreis von drei Bolivianos,
       umgerechnet 30 Eurocent, einen Preis gewählt, der exakt zwischen dem für
       einen Minibus und dem für ein Sammeltaxi liegt. Das sei attraktiv, findet
       Nogales genauso wie Calle Escobar.
       
       Die Gondel gleitet langsam in die Tiefe, in Richtung Sopocachi. Das ist
       eines der besseren Viertel von La Paz. Hier sind nicht nur mehrere
       Kulturinstitutionen der Regierung ansässig, sondern auch zahlreiche
       Nichtregierungsorganisationen. Nogales hat deshalb hin und wieder hier zu
       tun. Die Linea Amarilla, die gelbe Linie, ist seit ihrer Einweihung Mitte
       September 2014 für ihn die schnellere und angenehmere Alternative zu den
       Mikrobussen. Die Gondeln brauchen für die knapp vier Kilometer Luftlinie
       zwischen El Alto und dem südlichen Zentrum von La Paz etwa eine
       Viertelstunde. „Mit dem Kleinbus ist es oft eine Stunde, denn der Prado ist
       fast immer verstopft“, sagt Nogales.
       
       ## Aufwertung zu Modellstädten
       
       Der Prado, das ist die vierspurige Prachtstraße, die im Norden zur Autobahn
       nach El Alto und im Süden zu den besser situierten Vierteln wie Sopocachi
       und Obrajes führt. Nogales ist kein Freund der engen, Ruß ausstoßenden
       Kleinbusse, die sich von El Alto durch das Zentrum bis in den Süden von La
       Paz quälen. Er geht deshalb die 666 Höhenmeter von Ciudad Satélite nach
       Sopocachi auch gern zu Fuß hinunter. Das hat er als Student so gehalten,
       weil er Geld sparen musste, und anschließend, um fit zu bleiben. Der Ab-
       und der deutlich anstrengendere Aufstieg könnten aber künftig seltener
       werden.
       
       Die gelbe Linie hat ein knallrotes Pendant, die Linea Roja. Sie verläuft
       weiter nördlich und verbindet das kommerzielle Zentrum von El Alto, die
       Feria 16. de Julio, mit dem alten Bahnhof am oberen Rand der Altstadt von
       La Paz. Hinter den stillgelegten Bahngleisen steht jetzt eine mit leuchtend
       roten Kunststoffplatten verkleidete Seilbahnstation. Ende Mai 2014 hat
       Präsident Evo Morales sie eingeweiht. Die dritte, grüne Linie dann am 4.
       Dezember. Seitdem verfügt die Metropolregion von La Paz und El Alto über
       eines der längsten Seilbahnnetze der Welt. 10,4 Kilometer lang ist es
       bisher, und es soll weiter ausgebaut werden. Millionen Menschen sind schon
       mit den Seilbahnen gefahren. „Es sind vor allem Pendler, aber auch
       Touristen. Für sie ist die spektakuläre Fahrt über die Dächer von La Paz
       ein Reisehöhepunkt“, sagt Torsten Bäuerlen.
       
       Der 34-Jährige ist Projektmanager von Doppelmayr. Das Unternehmen aus
       Österreich ist mit dem Bau von Skiliften zum Weltmarktführer in Sachen
       Seilbahnbau aufgestiegen. Seit zwei Jahren ist er in La Paz für den Aufbau
       der drei Seilbahnlinien verantwortlich.
       
       Umgerechnet 450 Millionen US-Dollar hat Finanzminister Alberto Arce in
       seinem Etat für 2015 eingeplant, um das Netz um fünf zusätzliche Strecken
       zu erweitern. „Wir wollen weitere Stadtteile mit der Seilbahn erschließen:
       Villa Fátima und Chuquiaguillo im Norden der Stadt genauso wie Villa
       Copacabana oder Pampahasi Chuco“, sagt der Minister. Wer heute aus einem
       dieser Viertel in die Innenstadt fährt, ist auf den überfüllten Straßen
       schnell eine Dreiviertelstunde unterwegs. Per Seilbahn könnte die Fahrt
       zwischen sieben und zwölf Minuten dauern, kalkulieren die Stadtplaner.
       
       Für die ist die Seilbahn zur vollwertigen Verkehrsmittelalternative
       geworden. U- und S-Bahn-Systeme sind angesichts der bis zu tausend Meter
       Höhenunterschiede zwischen den einzelnen Stadtvierteln von El Alto und La
       Paz klar im Nachteil. Zwar hat die Seilbahn längst nicht die Kapazitäten
       einer U-Bahn, die rund 60.000 Passagiere in der Stunde transportieren kann.
       Die drei Seilbahnlinien können immerhin 18.000 Passagiere pro Stunde
       transportieren – aber sie benötigen kaum Platz, wirbt der Doppelmayr-Mann
       Bäuerlen für die Gondeln.
       
       ## „Ahs“ und „Ohs“ in der Gondel
       
       Die für ein Großprojekt kurze Bauzeit hat Boliviens Regierung derart
       begeistert, dass sie im kommenden Februar die neuen Verträge für die fünf
       zusätzlichen Linien mit Doppelmayr unterzeichnen will.
       
       Das Ganze hat eine politische Dimension. Präsident Evo Morales schwärmt,
       dass La Paz und El Alto zu „Modellstädten“ Lateinamerikas geworden seien,
       weil die Bahn Menschen unterschiedlicher sozialer Realitäten
       zusammenbringt. Das sieht auch Nogales so. „In den Gondeln sitzen sich
       traditionell gekleidete Aymara-Frauen und Geschäftsleute, die am Flughafen
       von El Alto zu tun haben, gegenüber und kommen ins Gespräch“, sagt er.
       
       Der Musiker Franklin Calle Escobar, der regelmäßig zwischen Sopocachi und
       der Station Parque Mirador in El Alto unterwegs ist, pflichtet ihm bei: „Da
       kommen sich die Einwohner zweier doch recht unterschiedlicher Städte
       näher“: das als arm, dreckig und kriminell verschriene El Alto und unten
       das gut situierte La Paz. Über die herumlaufenden Kinder oder weil die
       tolle Aussicht zu allerlei Ahs und Ohs Anlass gibt, kommen sich die
       Passagiere näher. Solche Situationen sind typisch in den blitzsauberen
       Gondeln, die zehn bis zwölf Fahrgästen Platz bieten und auch nach ein paar
       Wochen im Einsatz noch nach Kunststoff riechen. Auffällig ist, dass sich
       bislang keine Graffiti und Kratzer in den Plexiglasscheiben finden. „Die
       Menschen sind stolz auf ihre Seilbahn und achten auf sie“, glaubt Nogales.
       
       Der Name „Meine Seilbahn“ – wie Mi Teleferíco übersetzt heißt – scheint in
       Bolivien nicht nur eine Marketingstrategie zu sein.
       
       ## Zehn Millionen Fahrgäste
       
       Das ist eine Parallele zu anderen Standorten von Doppelmayr in Caracas oder
       in Rio de Janeiro. Dort sorgen – ähnlich wie in Bolivien – schwebende
       Gondeln dafür, dass marginalisierte Stadtteile mit dem Zentrum verbunden
       werden. „Für die Menschen ist das ’ihre‘ Bahn. Mit der wird sich
       auseinandergesetzt“, sagt der Projektmanager Bäuerle. Sein Eindruck deckt
       sich mit den Posts, Fotos und Berichten, die auf Facebook und anderen
       Seiten über Mi Teleférico zu finden sind.
       
       Hugo Cervantes, der zehnmillionste Fahrgast, wurde vor ein paar Tagen
       geehrt. Kaum jemand hätte mit derart vielen Fährgästen in so kurzer Zeit
       gerechnet – weder bei Doppelmayr noch bei der Regierung in La Paz. Iván
       Nogales dürfte zum regelmäßigen Nutzer der Gondeln werden. Er hat die
       Fahrkarte für die Rückfahrt nach El Alto schon in der Tasche.
       
       5 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Knut Henkel
       
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