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       # taz.de -- Porträt über Amsterdamer DJ Marcelle: Eine Offenbarung für ihre Hörer
       
       > DJ Marcelle zaubert meisterhaften Querschlägersound unterschiedlicher
       > Provenienz. Dazu benötigt sie drei Plattenspieler und etwas Zeit.
       
   IMG Bild: DJ Marcelle legt ausschließlich Vinyl auf. Kollegen, die am Rechner stehen, findet sie allein schon optisch „total langweilig“.
       
       Dort, wo Neukölln längst aufgehört hat, Berlins hipster Bezirk zu sein, und
       es eher nach Industriegebiet als nach Kneipenviertel aussieht, liegt das
       Bei Ruth, ein Schuppen, der einen daran erinnert, dass vor 20 Jahren die
       meisten Läden in Berlin so aussahen wie dieser. Versteckt in einem
       schummrigen Hinterhof befindet sich der Aufgang, im Treppenhaus liegt Müll
       herum, Türsteher gibt es keinen, und die Bierpreise sind so moderat wie der
       Eintritt. So etwas findet man heute kaum noch in Berlin.
       
       Im Bei Ruth ist DJ Marcelle aus Amsterdam Resident-DJ. Das heißt, sie tritt
       hier regelmäßig auf, durchschnittlich einmal im Monat. Das Bei Ruth ist der
       passende Club für DJ Marcelle, die mit dem Jetset, der in der DJ-Branche
       weit verbreitet ist, nichts gemein hat.
       
       Sie braucht den Luxus, der Dancefloorbespaßern heutzutage so geboten wird,
       nicht. Wenn sie im Bei Ruth auflegt, übernachtet sie bei einem ihrer vielen
       Freunde in Berlin. Sie spricht von einem Punkethos, das sie sich bewahrt
       habe: „Ich organisiere alles selbst. Diese DIY-Haltung ist mir wichtig.“
       
       Auch vom Stil her bietet sie etwas völlig anderes als ein handelsüblicher
       Club-DJ. Sie legt zwar tanzbare Musik auf, die aber ungefähr das genaue
       Gegenteil dessen ist, was in den einschlägig bekannten Berliner Cubs ohne
       Müll im Treppenhaus, vom Watergate bis zum Berghain, gefragt ist, nämlich
       Techno und am besten nichts anderes. Die Amsterdamerin mixt gern Platten
       mit afrikanischer Musik, Dub und elektronischer Querschlägermusik. Dazu
       serviert sie sonderbare Geräusche, Froschquaken und Ähnliches oder
       Ausschnitte aus Hörspielplatten.
       
       ## Älter als jeder Gast
       
       Am liebsten spielt sie ihre Platten auch nicht nacheinander ab, sondern
       zeitgleich, nicht ein Track löst den anderen ab, sondern die verschiedenen
       Soundquellen legen sich Schicht auf Schicht übereinander. Meist legt
       Marcelle daher mit drei Plattenspielern auf, damit ihre „Kompositionen“ –
       so nennt sie ihre ausgeklügelten Mixe – auch wirklich so vielschichtig
       klingen, wie sie sich das vorstellt. So entsteht ein Klangamalgam, das zwar
       nicht automatisch jedem Publikum leicht zu vermitteln ist, aber garantiert
       ungewöhnlich klingt: Afrikanische Grooves verschwimmen so zu abstrakter
       elektronischer Bassmusik.
       
       Im Bei Ruth wissen die Gäste offensichtlich, was von Marcelle, die Anfang
       50 ist und damit wohl älter als jeder ihrer Gäste, zu erwarten ist. Sie
       legt ihre irre Soundmixtur auf, und auf der Tanzfläche schaut sich auch
       dann niemand verständnislos um, wenn sie mal wieder abrupt einen
       musikalischen Stilwechsel vornimmt. Ihr Trick ist es, die Leute mit etwas
       zu ködern, was sie kennen, um sie unbemerkt auf neues Terrain zu bewegen.
       „Ich lege etwa eine Drum-’n’-Bass-Maxi auf, und dazu kommt dann etwas
       Schräges, vielleicht etwas von dem Elektroniklabel Pan“, erklärt Marcelle
       ihr DJ-Konzept. „Wer angefangen hat, auf Drum ’n’ Bass zu tanzen, zappelt
       einfach weiter.“
       
       DJ Marcelle legt anders auf als alle anderen, und das ist ihr Markenzeichen
       geworden. Sie ist in vielerlei Hinsicht ein Unikat in der DJ-Landschaft. Es
       fällt einem niemand sonst ein, der wie ein klassischer Club-DJ an den
       Wochenenden von Stadt zu Stadt, Club zu Club und Party zu Party tingelt,
       dabei aber einen derart radikal ungewöhnlichen, aus clubfunktionalen
       Gesichtspunkten unmöglichen Sound auflegt.
       
       ## Bewusst ständig Neues entdecken
       
       Was sie macht, ist letztlich die Fortführung der Idee des britischen
       Radio-DJs John Peel. Peel hat seine Hörer stets überfordert. DJ Marcelle
       legt Platten in einer Art und Weise auf, wie man es sich von viel mehr
       Diskjockeys wünschen würde. Dabei liegt das, was sie macht, ziemlich nahe.
       Es gibt so viele unterschiedliche, auf eigene Art wunderbare Musiken, warum
       sollte man sich als DJ nur auf einen bestimmten Sound begrenzen?
       
       Wo selbst ein musikalischer Alleschecker wie der Musiker und Autor Thomas
       Meinecke als Gelegenheits-DJ nicht mehr versucht, als den einen
       Detroit-Techno-Track in den nächsten übergehen zu lassen, macht Marcelle,
       die über die unterschiedlichsten Musiken ähnlich viel weiß wie Meinecke,
       genau das Gegenteil.
       
       „Ich liebe Herausforderungen beim Auflegen“, sagt sie, und dazu gehört bei
       ihr, auch selbst ständig Neues zu entdecken und in ihr Set zu verweben.
       Aktuell interessiere sie sich für die Platten der Labels Pan und Black
       Acre, also für Labels, die für innovative elektronische Musik bekannt sind.
       „Ich begeistere mich einfach ganz generell für Musik und dafür, dass es
       immer weitergeht mit ihr. Darum will ich auch nicht aufhören mit dem DJen“,
       sagt sie.
       
       Die Kunst von DJ Marcelle lässt sich sehr gut auf ihren vier Mix-Alben
       anhören. In Anlehnung an Titel berühmter Dub-Platten, etwa von King Tubby
       und Augustus Pablo, dekliniert sie den Titel ihres Debütalbums, „DJ
       Marcelle Meets Her Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory“, von Album
       zu Album in kleinen Variationen durch.
       
       ## JFK und Merkel im Mix
       
       Das kürzlich erschienene Werk heißt deshalb: „DJ Marcelle meets Most
       Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory.“ Marcelle ist Fan von Dada und
       Monty Python, man merkt das an der Auswahl ihrer Stücke, aber auch an
       besagten Albumtiteln. Drei in sich geschlossene Mixe – Schrägstrich:
       Kompositionen – gibt es auf dem im Studio der legendären deutschen
       Krautrockband Faust entstandenen Doppelvinyl, das nicht auf CD erscheint,
       weil Marcelle als erklärter Schallplattenfan mit diesem Medium nichts
       anfangen kann.
       
       Es gibt den „Breathtaking Mix“, den „Aha! Mix“ und den „Incomprehensible
       Mix“. Auf der vierten Plattenseite werden einzelne Stücke diverser
       Bandprojekte mit Namen wie Fodderstompf präsentiert, in die Marcelle
       involviert ist und bei denen sie den Plattenspieler zu Klängen von etwa
       einer Trompete, einem Akkordeon oder Perkussionsinstrumenten förmlich
       „spielt“.
       
       Die Mixe auf dem Album sind sorgfältig komponiert, spannungsgeladen und
       bieten die typische DJ-Marcelle-Mischung aus Humor und interessanter Musik.
       Der Ausschnitt einer 1963 in der Frankfurter Paulskirche gehaltenen Rede
       von John F. Kennedy trifft auf den Tribal Postindustrial von Muslimgauze,
       und es passt wunderbar. Sogar Angela Merkel redet dank Marcelles Mixkünsten
       irgendwann zu uns.
       
       Marcelle lebt das, was sie macht, total. Das kommt auch rüber, wenn sie
       begeistert erzählt, wie nach ihren Sets junge Menschen zu ihr kommen und
       ihr sagen, sie hätten „sich so frei gefühlt“, oder: „Marcelle, du bist eine
       Offenbarung für mich“, oder: „Marcelle, ich wollte, meine Mutter wäre wie
       du.“ Dann, wenn sie von John Peel erzählt, mit dem sie befreundet war, und
       ihren eigenen Radiosendungen, die sie beim Sender DFM Amsterdam und beim
       Lokalsender FSK in Hamburg hat. Aber es freut sie auch, einfach davon zu
       erzählen, wie toll es sein kann, in einem Set einen Song von King Tubby auf
       die neue Single von The Fall folgen zu lassen.
       
       ## DJ-Pult als Hochaltar
       
       Um die 15.000 Platten hortet Marcelle in ihrem Häuschen in Amsterdam. Ihre
       Plattenregale erstrecken sich schon bis an die Decke, und doch kommt
       ständig neuer Stoff dazu. Marcelle liebt es, sich in Plattenläden
       herumzudrücken und auf Flohmärkten in den Kisten mit Vinyl zu wühlen. Jedes
       Mal, wenn sie im Bei Ruth aufgelegt hat, grast sie am Sonntagmittag noch
       den Flohmarkt auf dem Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain ab.
       
       Beatport und all das, was dem digitalen DJ an vermeintlichen
       Annehmlichkeiten angeboten wird, kommt für sie ja nicht infrage. Vinyl ist
       das alternativlose Medium ihrer Wahl, auch wenn sie auf Tour ihren
       Plattenkoffer schleppen muss, während Kollegen ihrer Zunft nur noch mit
       einem Stick in der Hosentasche von Club zu Club reisen. Sie sagt, sie finde
       es „total langweilig, wenn ein DJ nur mit Rechnern auflegt“, allein schon
       optisch.
       
       Sie dagegen schmückt ihren Arbeitsplatz bei jedem Auftritt vorher liebevoll
       mit allerlei Nippes, mit Girlanden, Plastikblumen und Püppchen. Das DJ-Pult
       wird so zu einem prächtigen Hochaltar. „Ich habe einmal in einer
       Radiosendung alle Platten rückwärts gespielt. Zwei Stunden lang. Ich habe
       einen Plattenspieler, mit dem das geht“, sagt sie und wirkt nicht so, als
       erwarte sie, dass man das ungewöhnlich finden könnte. Dabei erscheint sie
       wahnsinnig zugänglich und strahlt das ganze Gespräch über. Über ihr Leben
       voller Musik sagt sie: „So wie ich auflege und wie ich bin, das gehört
       zusammen.“ Man ist sich sicher, dass sie mit ihrer Aussage absolut recht
       hat.
       
       5 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hartmann
       
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