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       # taz.de -- Zum Tod von Ulrich Beck: Der Bundesrepublikaner
       
       > Ulrich Beck hat uns die Auflösung der Nationalstaaten und die
       > Individualisierung erklärt. Die Lust am Negativen war dem Soziologen
       > dabei immer fern.
       
   IMG Bild: Er war fasziniert vom Möglichkeitsraum des Humanen: Ulrich Beck (1944-2014).
       
       Ulrich Beck hat für einen Soziologen, eine oft mit Verachtung bedachte
       Profession, eine geradezu unheimliche öffentliche Wirkung entfaltet. Das
       verdankte sich einer seltenen Kombination aus wissenschaftlicher Präzision
       und journalistischem Gespür. Er sah gesellschaftliche Haarrisse, aus denen
       fundamentale Umbrüche wurden. Dabei half ihm eine Katastrophe: Tschernobyl
       1986.
       
       Beck war damals 42 Jahre und Professor in Bamberg, nicht gerade Zentrum
       intellektueller Auseinandersetzung. Die Studie „Risikogesellschaft“ machte
       ihn mit einem Schlag berühmt. Die Diagnose lautete, dass die Klassen, die
       mit der Industriegesellschaft entstanden waren, mit dieser auch untergingen
       – oder sich zumindest radikal verwandelten.
       
       Die Trennlinie verlief nicht mehr nur zwischen reich und arm, sondern auch
       anhand der Verteilung von Gefahren. „Not ist hierarchisch, Smog ist
       demokratisch“ – dieser Aphorismus erhellte, dass die Ökologie ein anderes
       Denken über die Gesellschaft nötig machte.
       
       Diese Grundidee konnte man schon Ende der 70er-Jahre bei anderen, etwa bei
       Rudi Dutschke, lesen. Dutschke hatte proklamiert, dass angesichts der
       möglichen Selbstvernichtung im Atomzeitalter die Gattungsfrage die
       Klassenfrage als Glutkern der Politik abgelöst hatte. „Risikogesellschaft“
       war indes nicht noch eine postmarxistische Grabrede auf das Proletariat,
       sondern einer der ersten Wegweiser für eine Moderne, die von
       Umweltzerstörung geprägt ist.
       
       Dies trug Beck Ende der 80er-Jahre nicht zu Unrecht den Ruf ein,
       Diagnostiker des postmateriellen, ökologisch bewussten Alternativbürgertums
       zu sein. Der zeitgleiche Aufstieg der Grünen war der passende Rahmen für
       dieses Bild. Die Idee, dass moderne Gesellschaften zunehmend damit zu tun
       haben, die Kollateralschäden ihrer Innovationsschübe zu beseitigen, ist
       indes ein Art Universalschlüssel zu Becks Denken – weit über die Ökologie
       hinaus.
       
       ## Chronist der Auflösung der alten Kollektive
       
       Die zweite Theoriegroßbaustelle ergab sich daraus wie von selbst: die
       Individualisierung. Die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich als
       Auflösung von Kollektiven, von Kirchen über Parteien bis zu Gewerkschaften
       erzählen. Die Post-68er waren das Ferment in diesem Prozess, dessen
       Chronist Beck war (wenn auch nicht der einzige).
       
       Gegner haben ihm gelegentlich vorgeworfen, zu wenig wissenschaftliche
       Distanz und zu sehr unterstützender Teil gewesen zu sein. So war es nicht.
       1990 entwarf er mit seiner Frau, Elisabeth Beck-Gernsheim, in der Studie
       „Das ganz normale Chaos der Liebe“ ein Panorama der Widersprüche, in denen
       sich Individuen nach dem Ende der Ehe als gesellschaftliche Zwangsnorm
       wiederfanden. Bonbonfarben war da nichts.
       
       Denn die Auflösung von Traditionen bringen eben auch den Zwang mit sich,
       sich selbst zu erfinden. Wo die die Normen verblassen, beginnt die Arbeit
       am Selbst. Beck hat allerdings, anders als der französische Soziologe Alain
       Ehrenberg und in dessen Gefolge Byung Chul Han, stets daran festgehalten,
       Individualisierung als Chance zu verstehen, nicht als Nachtmar.
       Selbstverwirklichung kann, wie jedes Lebenskonzept, scheitern. Es hat, wie
       alles, unvorhergesehene Nebenwirkungen, und es ist von der Zurichtung durch
       die Ökonomie bedroht. Aber es ist ein Konzept, das Freiheitsgewinn
       verspricht. Die Krux dabei bleibt, „wie die Individuen damit umgehen“
       (Beck)
       
       Das dritte Gebäude, das der Soziologe inspizierte, war ein ebenfalls
       typisch bundesrepublikanisches Projekt: das Ende des Nationalstaats und die
       Verwandlung der Gesellschaften in transnationale, hybride Formen.
       Überflüssig zu sagen, dass Beck, anders als Intellektuelle wie
       Enzensberger, immun gegen die Gefühls-EU-Skepsis war. Europa grundlegend in
       Frage zu stellen, schien ihm keine Meinung zu sein, über die man so oder so
       denken konnte, sondern intellektuelle Regression. Das galt auch für sein
       Fach. „Die Soziologie, die im Container des Nationalstaats bleibt, arbeite
       mit Zombie-Kategorien, die in unseren Köpfen herumspuken, und unser Sehen
       auf Realitäten einstellen, die immer mehr verschwinden.“
       
       ## Ein Medienintellektueller ohne priesterliches Gehabe
       
       Beck ließ sich zu diesem und jenem interviewen, auch jenseits des eigenen
       Fachgebiets. Er schrieb Essays über Bundestagswahlen und war auf Wirkung
       bedacht. Ein eingreifender Medienintellektueller? Ja, durchaus. Aber auf
       eine demokratische Weise, ohne die priesterlich anmutende Geste des
       Großtheoretikers, dem qua Status besondere moralische Urteilskompetenz
       zuwächst.
       
       Ulrich Beck war ein – darf man das so sagen? – positiver Denker, fasziniert
       vom Möglichkeitsraum des Humanen. Die Lust am Negativen, das dunkle,
       radikale Denken war ihm fern. Man kann sich ihn als intellektuelles
       Gegenstück zu den französischen Postmodernen vorstellen.
       
       Er kannte, anders als die älteren Analytiker der Republik Jürgen Habermas
       und Hans-Ulrich Wehler, nur diese Gesellschaft. Keine HJ, Flak, Traumata.
       Er hat das Eigentümliche dieser Republik, vor allem das Postnationale,
       früher und genauer skizziert als andere.
       
       Er war einer von uns. Der Klügste, wahrscheinlich.
       
       Am 1. Januar ist er mit 70 Jahren in München gestorben.
       
       3 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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