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       # taz.de -- Leiter des HKW über Zeit: „Das Rad immer schneller drehen“
       
       > Schon wieder ein Jahr rum? Bernd Scherer, Leiter am Berliner Haus der
       > Kulturen der Welt, über Beschleunigung, Zeitzonen und Kipppunkte von
       > Entwicklungen
       
   IMG Bild: Reichhaltig Uhren auf einem Basar in Islamabad.
       
       taz: Herr Scherer, freuen Sie sich auf Silvester? 
       
       Bernd Scherer: Nicht direkt auf Silvester. Aber auf das Jahresende freue
       ich mich, weil es mir die Chance gibt, das Jahr in größerer Ruhe passieren
       zu lassen, Bücher zu lesen, die ich vorher nicht geschafft habe.
       
       Der Jahreswechsel bringt diesmal einen Programmwechsel im Haus der Kulturen
       der Welt. Zu Ende geht ein zweijähriges Projekt, das sich mit dem
       Anthropozän beschäftigt hat, und 2015 kommt ein neues Thema, überschrieben
       „100 Jahre Gegenwart“, das bis 2018 dauert. Warum sind Sie dazu gekommen,
       Themen über mehrere Jahre zu bearbeiten? 
       
       Themen können dann eine andere Komplexität erreichen. Schon deshalb, weil
       man mit einer ganzen Reihe von Künstlern, Wissenschaftlern und
       gesellschaftlichen Akteuren über einen längeren Zeitraum in einem
       Diskussionszusammenhang ist. Beim Anthropozän waren wir über zwei Jahre
       lang mit 70, 80 Personen im Austausch, da entstehen neue Ideen.
       
       Gibt es eine inhaltliche Brücke vom Anthropozän zu „100 Jahre Gegenwart“? 
       
       Ja. Der Ausgangspunkt für das Anthropozänprojekt war die Beobachtung von
       Erdwissenschaftlern, dass die Ausbeute von Ressourcen seit Mitte des 20.
       Jahrhunderts exponentiell ansteigt. Das hat zu ungeheuren
       Beschleunigungsprozessen in der Gesellschaft geführt, getrieben von
       fossilen und nuklearen Energien. Beschleunigung ist auch zentrales Thema
       bei „100 Jahre Gegenwart“.
       
       Also ist es eine Fortsetzung? 
       
       Und komplementär gedacht: Das Anthropozänprojekt hat sehr stark auf die
       materiellen Prozesse geschaut, während „100 Jahre Gegenwart“ die
       gesellschaftlichen Prozesse ins Auge fasst.
       
       2014 war der Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren ein großes Thema.
       Hängt damit die Wahl dieses Zeitraums zusammen? 
       
       Vielleicht skizziere ich mal den Ausgangspunkt. Wir sahen, dass der Erste
       Weltkrieg eine ungleich größere Rolle in der Erinnerung spielte als viele
       andere Gedenktage. Unsere Analyse dazu war, dass das mit einer
       Befindlichkeit und Verunsicherung in der Gegenwart zu tun hat. Der Erste
       Weltkrieg löste eine tiefe Transformation der Gesellschaft aus – und wir
       spüren, dass ähnliche Transformationen momentan stattfinden.
       
       Womit hängen diese Transformationen zusammen? 
       
       Wesentliche Zeitbegriffe haben sich damals verändert. Das begann in den
       1860er/70er Jahren bei den Eisenbahnen. Wenn man von der Westküste zur
       Ostküste in den USA fahren wollte, musste man seine Uhr 200-mal immer
       wieder neu einstellen. Das führte dazu, dass man Zeitzonen einrichtete, in
       denen die Zeit synchronisiert war. Der zweite Schritt folgte 1913, als man
       ein Zeitsignal rund um die Erde schicken konnte. Damit wurde erstmals eine
       globale Zeit hergestellt.
       
       Was bedeutet diese Weltzeit denn für den Einzelnen? 
       
       Eine erste gemeinsame Erfahrung war sicher der Untergang der „Titanic“
       1912: Mittels der drahtlosen Telegrafie wurde der Untergang sowohl in den
       USA wie in Europa miterlebt. Die Telegrafie etablierte eine gemeinsame
       Erfahrungswelt.
       
       Über solche Ereignisse hinaus, was bewirkte es im Alltag? 
       
       Durch die technologische Möglichkeit, Uhren zu produzieren, die sich jeder
       leisten konnte, konnte man zum Beispiel im Ersten Weltkrieg Einsätze anders
       koordinieren. Der Erste Weltkrieg ist der erste, der mit Armbanduhren
       geführt wurde. Das war die Voraussetzung für die Synchronisierung von
       Massenangriffen. Was man sich auch klarmachen muss, ist, dass sich
       kapitalistisches Wirtschaften an diesem Zeitbegriff festmacht. Je mehr man
       in einer Zeiteinheit herstellen konnte, desto produktiver wurden die
       Prozesse. Es ging um Effizienz und das Wachsen des Gewinns. Die mechanische
       Zeit war eine Voraussetzung des kapitalistischen Wirtschaftens und schrieb
       sich in die Körper der Menschen ein.
       
       Gab es auch Widerstand gegen die Zeittaktung? 
       
       Die Arbeiter erlebten das auch als riesige Belastung, für den eigenen
       Körper, nach der Uhr zu arbeiten. In England, dem Geburtsland der
       Industrie, kam es deshalb auch zu Angriffen auf die Uhren!
       
       Beschäftigt Sie unter dem Titel 100 Jahre Gegenwart auch die Suche nach
       einem Ausweg aus dem kapitalistischen Produktionsmuster? 
       
       Zuerst mal ist es hilfreich, das Muster zu verstehen. Schon im 19.
       Jahrhundert streiken die Arbeiter und demonstrieren, um die Arbeitszeit zu
       reduzieren und auf der anderen Seite Freiraum zu gewinnen, Freizeit. Aus
       dem Bereich der Kultur gab es starke Kritik an der Mechanisierung der Zeit
       und die Suche nach alternativen Zeitmodellen. Etwa wenn James Joyce in
       seinem „Ulysses“ Hunderte von Seiten einem Tag widmet. Da wird auf eine
       subjektive Zeiterfahrung verwiesen.
       
       Um das zu lesen, braucht man viel Freizeit. Mehr als einen Tag. 
       
       Die Freizeit, oder die Eigenzeit, wird im Laufe des 20. Jahrhunderts
       zunehmend kapitalistisch definiert. Sport, Lesen, Kino, alles wird in
       Zeiteinheiten definiert. Was zunächst als subjektive Zeit der Arbeitszeit
       gegenüberstand, wird Stück für Stück durch kapitalistische Prozesse
       überformt, vermarktet.
       
       Was bedeutet das für die Gegenwart? 
       
       Technologische Prozesse beschleunigen sich und es gibt technische
       Innovationen. Die wiederum bewirken, dass alles, was vorher war, als
       anachronistisch zurückgelassen wird. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die
       Geschwindigkeit der Innovationen so groß geworden, dass die Zeit, die man
       lange in die drei Phasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufteilte,
       immer flacher wird.
       
       Was meinen Sie mit flacher? 
       
       Sie müssen immer schneller das Rad drehen, um auf der Ebene zu bleiben, auf
       der Sie sind. Sie müssen schneller rennen, um nicht zurückzufallen. Wenn
       ein Großteil der Energie dafür aufgebraucht wird, den Platz zu halten, an
       dem man ist, haben Sie keine Ressourcen mehr, um in die Zukunft zu bauen.
       
       Vielleicht sehen deshalb Utopien im Science-Fiction immer noch aus wie in
       den 60er Jahren. 
       
       Ja. Durch den großen Verbrauch von Ressourcen im Anthropozän haben wir
       Strukturen geschaffen – riesige Straßensysteme, riesige Infrastrukturen für
       Flugplätze, nuklearer Schrott – das hat Wirkung für die Zukunft.
       
       Das leuchtet mir ein. Aber der Blick auf die Vergangenheit wird doch sehr
       gepflegt, in vielen populären Formaten in Film oder Literatur. Städte
       wimmeln von Markierungen, die auf Geschichte verweisen. Das ist doch fast
       eine Vergangenheitsbesessenheit. 
       
       Aber da wird die Vergangenheit nur als ein Fluchtpunkt betrachtet, ein
       Gegenmodell zur Gegenwart. Das ist eine Verklärung. Aber historisches
       Wissen wird nicht produktiv gemacht für gegenwärtiges Handeln. Da greift
       unser 100-Jahre-Projekt: Statt Romantisierung der Vergangenheit ist eine
       Grundidee, auf Entscheidungen aus den letzten 100 Jahren zurückzublicken,
       die uns dahin gebracht haben, wo wir heute sind. Und zu fragen, was für
       andere Möglichkeiten hätte es gegeben und kann man deren Potenzial wieder
       belebe?
       
       Können Sie ein Beispiel geben? 
       
       Das Internet selbst ist ein gutes Beispiel. Als es in den 90er Jahren
       popularisiert wurde, hob man das Potenzial für demokratische Bewegungen
       hervor. Politik von unten schien nah. Jetzt merken wir, wie aus dem
       Möglichkeitsinstrument zunehmend ein Kontrollinstrument geworden ist. So
       gibt es eine Reihe von Entwicklungen, die an bestimmten Kipppunkten eine
       Richtung eingeschlagen und anderes ausgeschlossen haben.
       
       Im Februar 2015 zeigen Sie von Antje Ehmann und Harun Farocki „Eine
       Einstellung zur Arbeit“, mit kurzen Filmen aus 15 Industriestädten. Da
       stelle ich mir vor, dass die Ökonomisierung der Zeit, die Prägung der
       Körper, Teil dessen ist, was man sehen kann. 
       
       Der Titel bezieht sich auf einen Film von 1895, „Die Arbeiter verlassen die
       Lumière-Fabrik“. Damals war der Film in seinen Anfängen. Der bewusste
       Umgang mit Zeit und Zeiteinheiten war Teil der Auseinandersetzung. Aber wir
       hatten „Eine Einstellung zur Arbeit“ schon geplant, bevor das Konzept zu
       „100 Jahre Gegenwart“ – das Ende September mit einem Kongress beginnt –
       entstand. Dass es trotzdem gut passt, bestätigt unsere Idee.
       
       31 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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