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       # taz.de -- 25 Jahre als Jugendstrafrichter in Berlin: „Habe ich Zweifel, spreche ich frei“
       
       > Die Wahrheit finden: Kay-Thomas Dieckmann war ein Vierteljahrhundert lang
       > Jugendstrafrichter. Jetzt erging sein letztes Urteil.
       
   IMG Bild: „Es ist nicht schön, jemanden ins Gefängnis zu schicken.“ - Kay-Thomas Dieckmann vor dem Justizpalast Berlin-Moabit.
       
       BERLIN taz | Erst vor einigen Monaten hat Kay-Thomas Dieckmann Theater
       gespielt. In „Please, continue (Hamlet)“ verhandelt der echte Richter
       Kay-Thomas Dieckmann in einem fiktiven Prozess gegen Hamlet, der Polonius,
       den Vater seiner Verlobten Ophelia, erstochen hat. Es gibt eine
       Ermittlungsakte, ein psychiatrisches Gutachten, Zeugen werden gehört, die
       Verteidigung – am Ende fällt Dieckmann ein Urteil: sechs Jahre für Hamlet.
       
       Einen Abend später wird ein anderer Berliner Richter über denselben Fall
       entscheiden: Freispruch. Zwei Theaterregisseure sind diesen Sommer mit
       ihrem fiktiven Doku-Drama durch die Lande gezogen, um die Rechtsprechung zu
       prüfen. Auch Richter haben eine unterschiedliche Wahrnehmung, urteilen nach
       divergierenden Maßstäben. Wie findet ein Richter zu einem Urteil, wie
       nähert er sich der Wahrheit?
       
       „Ich war verblüfft, dass mein Kollege ihn freigesprochen hat“, sagt
       Kay-Thomas Dieckmann. „Aber jede Verhandlung ist anders.“ Für ihn habe das
       Gutachten klar den Vorwurf „vorsätzliches Tötungsdelikt“ bestätigt. „Es war
       ein gutes Experiment, das zeigt, wie schwierig es ist, zu einem Urteil zu
       kommen.“ Finden vor Gericht nicht immer die Dramen des Lebens statt,
       gleicht nicht der Gerichtssaal einem Theater? „Das sollte es nicht“,
       antwortet Dieckmann, ohne zu zögern. „Der Gerichtssaal versucht einen
       hochemotionalen Vorgang zu versachlichen. Als Richter kämpfe ich dafür,
       dass die Ebene der sachlichen Aufklärung erhalten bleibt.“
       
       Kay-Thomas Dieckmann, 64, ist Jugendrichter und Vorsitzender der 24. Großen
       Strafkammer des Landgerichts Berlin, einer von acht Jugendkammern in
       Berlin, die nun, da er Anfang 2015 in Pension geht, stillgelegt wird.
       Anders als das Jugendschöffengericht, wo ein Berufsrichter entscheidet, hat
       die Jugendstrafkammer drei Richter. Sie entscheidet über Berufungen und
       verhandelt über schwere Gewalttaten sowie Fälle sexuellen Missbrauchs –
       denn selbst wenn die Täter erwachsen sind, so sind doch die Opfer oft
       Kinder und Jugendliche. Etwa ein Drittel seiner Arbeit entfällt auf
       Missbrauchsfälle, sagt Dieckmann. „Ich versuche, die Emotionen nicht
       hochkochen zu lassen.“ Dennoch gehören diese Verfahren zu denen, die „mich
       am meisten belastet haben“. Er hat drei erwachsene Kinder.
       
       ## Von Ladendiebstahl bios Mord
       
       Dieckmann, 64, Berliner, geht gern zu Fuß von seiner Schöneberger Wohnung
       durch den Tiergarten ins Moabiter Gericht. „Ich mache meine Arbeit gern“,
       sagt er. „Die Arbeit eines Jugendrichters ist vielfältig – von
       Ladendiebstahl bis Mord ist alles dabei. Vor allem aber ist sie mit der
       Hoffnung verbunden, noch etwas zum Guten verändern zu können.“
       
       Die letzten Monate seiner Arbeit in dem alten Gerichtsgebäude in Moabit,
       mit seinen labyrinthischen Gängen und dem wie eine Kathedrale wirkenden
       Treppenhaus, verliefen ruhig. Statt wie sonst an die 80 Verfahren hatte
       Dieckmann in diesem Jahr nur 29. Seit 1998 leitet er die Jugendkammer,
       Dienstag und Donnerstag ist Sitzungstag – stets im Saal 621, überwiegend
       Holz, etwas nachgedunkelt.
       
       An einem Morgen im Oktober wird der Fall Mohammed K. verhandelt. Verdacht
       auf sexuellen Missbrauch zweier Nachbarjungen. „Nie sagt einer in solchen
       Fällen, ich war’s“, sagt Dieckmann. Es ist der Tag der Zeugenbefragung.
       Weil Mohammed K. die Tat bestreitet, sollen die Opfer – zwei Jungen im
       Alter von acht und neun Jahren – vernommen werden. Ein kleiner sozialer
       Kosmos tut sich auf – ohne Zuschauer, der Gerichtssaal bleibt wie so oft
       leer. Der Angeklagte, im Jogginganzug, ist ein in Deutschland lebender
       Libanese, unverheiratet, arbeitslos, ihm zur Seite ein Arabisch-Dolmetscher
       und sein Verteidiger.
       
       ## Es ist wichtig, die Wahrheit zu sagen
       
       Kay-Thomas Dieckmann stellt den Antrag, den Angeklagten von der
       Zeugenvernehmung auszuschließen, dem wird stattgegeben. Begründung: Der
       Zeuge habe erhebliche Angst auszusagen. Tom, der eigentlich anders heißt,
       ist neun, schwarz, die Familie stammt aus Nigeria, er ist mit seinem Vater
       gekommen.
       
       Dieckmann zieht seine Robe aus und setzt sich neben den Jungen in die erste
       Reihe. Der Richter erklärt ihm, wer wer im Saal ist. Dort der Gutachter, da
       der Verteidiger, neben der Box, wo sonst der Angeklagte sitzt; oben die
       beisitzenden Richter, die Staatsanwältin. Er erklärt ihm, was ein Zeuge
       ist, dass er nicht schuld ist und dass es wichtig ist, die Wahrheit zu
       sagen.
       
       Bei der Polizei und beim Psychologen hat der Junge bereits seine Version
       der Geschichte erzählt. Von der Playstation in der Wohnung des Angeklagten,
       vom sogenannten Wurstspiel, das er mit dem Angeklagten spielen sollte, von
       der Kapuze, die ihm der Angeklagte über den Kopf zog. Er spricht leise,
       zwischendurch kullern Tränen. Der Penis wird durch das Wort „Pipi“
       umschrieben. War er „im Mund“ oder „am Mund“, will Dieckmann wissen. „Nahe
       der Lippen“, das hat er bei der Polizei anders ausgesagt. Ist es ihm
       peinlich? Hat er Angst? Der zweite Zeuge, ein Achtjähriger, der aus einer
       bulgarischen Familie kommt, sagt später dezidiert, „im Mund“. Aber es sei,
       antwortet er auf Nachfrage, „nichts Gelbes“ gekommen.
       
       ## "Ich bin nicht naiv"
       
       Dieckmann fragt behutsam, wiederholt langsam die Aussagen, lässt sich auf
       das kindliche Vokabular ein. Später wird der gutachtende Psychologe den
       Kindern Reifeverzögerung und ein „eingeschränktes Phantasievermögen“
       attestieren. Ihre Glaubwürdigkeit steht außer Frage, auch wenn sich Tom
       einmal in einen Widerspruch verheddert hat. Der Angeklagte will sagen, „was
       er weiß“. Die „halbe Geschichte stimmt“. Die Kinder kamen gern zu ihm. Sie
       wüssten mehr schmutzige Sachen als er.
       
       „Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass man bei einer Hauptverhandlung immer
       nur bestimmte Aspekte geboten bekommt“, sagt Dieckmann im Gespräch. Im Fall
       Mohammed K. steht Aussage gegen Aussage. „Ein schwieriges Verfahren“, sagt
       der Richter später. Dass der Angeklagte das Urteil angenommen habe, sei für
       ihn überraschend gewesen. Im Vorfeld war es ihm nicht gelungen, ihn zu
       einem Schuldeingeständnis zu bewegen. „Im Schlusswort hatte ich das Gefühl,
       ich erreiche den Mann.“ Er legt ihm wegen seiner pädophilen Neigungen das
       Therapieangebot im Knast nahe. „Als religiöser Mensch müssen Sie das als
       Prüfung sehen. Und die besteht man nicht, indem man diese Neigung leugnet
       oder ignoriert.“
       
       Mohammed K. bekommt drei Jahre, sechs Monate.
       
       ## "Habe ich Zweifel, spreche ich frei"
       
       „Es ist nicht schön, jemanden ins Gefängnis zu schicken.“ Hat er eine lange
       Haftstrafe verhängt, geht Dieckmann eher erschöpft und deprimiert nach
       Hause. „Auch wenn man richtig gehandelt hat.“ Und wie kann man sicher sein,
       richtig gehandelt zu haben? „Habe ich Zweifel, spreche ich frei.“
       
       Wie schaut der Alltag aus? Aktenstudium, auch im elektronischen Zeitalter
       auf Papier. Die Beweisaufnahme gestalten, Zeugen laden, Gutachter
       beauftragen, Infos weiterleiten, terminieren. „Das ist die Hauptarbeit bei
       der Prozessvorbereitung: Welche Zeugen will man hören und in welcher
       Reihenfolge.“
       
       Es ist einer der letzten Tage in Dieckmanns Richterdasein, er sitzt im Büro
       in einem der Anbauten des alten Gerichtsgebäudes. Dieckmanns Hemd ist
       zartrosa-weiß gestreift, die Krawatte rot mit weißen Punkten. Er setzt gern
       Punkte, Streifen, dezenter Mix, so geht er auch ins Theater. Seine andere
       Leidenschaft ist Hertha, der Fußball, er spielt in einer
       Juristenmannschaft.
       
       ## Fünf Jahre lang als Anwalt
       
       Dieckmann war kein zielstrebiger Jurist. „Mit Mitte 20 hätte ich mir nie
       vorstellen können, Strafrichter zu werden.“ Er studiert Politik und Alte
       Geschichte, arbeitet für das Russell-Tribunal, fährt Taxi und befördert
       einmal eine angebliche Staatsanwältin, die ihm einen ungedeckten Scheck
       hinterlässt. Der Scheck führt ihn in ein Anwaltsbüro, wo er zu arbeiten
       anfängt und parallel ein Jurastudium absolviert.
       
       Fünf Jahre arbeitet er als Anwalt. „Das war nicht mein Ding.“ Er bewirbt
       sich während des Referendariats im November 89 als Richter, das gefällt
       ihm, diese Ernsthaftigkeit, Dinge abzuwägen. Berlin sortiert sich gerade
       neu, 1992 rutscht er als Ergänzungsrichter ins Honecker-Verfahren rein.
       Saal 700 im Moabiter Gericht, dort wo auch Dieckmanns Verabschiedung im
       Dezember 2014 stattfindet.
       
       „Als Richter ist man Teil des Systems, das muss man vorher klären.“
       Dieckmann hat das für sich geklärt. „Ich habe nie zu der
       Sozialarbeiterfraktion gehört.“ Er ist für schnelles und konsequentes
       Handeln, gerade bei Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Am
       Amtsgericht hätte er sicherlich zur Fraktion seiner verstorbenen Kollegin
       Kirsten Heisig gehört, die das sogenannte Neuköllner Modell ins Leben
       gerufen hat, das beschleunigte Strafverfahren ermöglicht.
       
       ## Regelmäßige Besuche in der Jugendstrafanstalt
       
       „Ich bin nicht dagegen, bei schweren Gewalttaten jugendliche Straftäter in
       die Jugendstrafanstalt (JSA) zu schicken. Das ist besser als die Entlassung
       in die Verwahrlosung.“ Trotzdem hält er nichts von kurzfristigen
       Jugendstrafen. Wenn, dann mindestens ein Jahr, darunter „ist das nicht
       konstruktiv“, in Bezug auf einen möglichen Schulabschluss, eine Lehre oder
       eine Therapie. Regelmäßig hat er Besuche von Jugendrichtern in der JSA
       organisiert. „Wir sollten wissen, wo wir die Jugendlichen hinschicken.“
       
       Wie es im Vollzug läuft, darüber bekommen Richter in der Regel keine
       Rückmeldung. Bewährungsstrafen überwachen sie hingegen selbst. Wird ein
       Urteil zur Bewährung ausgesetzt, sind damit Auflagen verbunden. Die Schule
       abschließen, Sozialarbeit leisten. Bei der JSA Berlin sieht Dieckmann „in
       letzter Zeit eine bedrückende Entwicklung“, da sind „keine neuen
       erzieherischen Ansätze mehr erkennbar“. Klingt da nicht doch der
       Sozialarbeiter durch? Eine sinnvolle Jugendpädagogik muss auch auf Risiken
       setzen, meint er nur. „Und dann passiert halt auch mal was.“ Doch die
       Senatsverwaltung wolle Schlagzeilen dieser Art vermeiden.
       
       Kay-Thomas Dieckmann hat es als Glück empfunden, „Richter sein zu dürfen“.
       Er übt jetzt das Perfekt, im berühmten Saal 700, da wo Honecker und dem
       Hauptmann von Köpenick der Prozess gemacht wurde. Hier sind an einem
       Dezembernachmittag rund 100 Leute versammelt. Kollegen, Familie,
       Wegbegleiter. Ein paar Jahre hätte Dieckmann gerne noch gearbeitet. Doch
       das Richtergesetz kennt keine Gnade. Aber er kann weiter unterrichten,
       Referendare ausbilden. Als Experte für den Opferfonds Sexueller Missbrauch
       tätig sein.
       
       Wo sieht er Reformbedarf? Dieckmann überlegt, die buschigen Augenbrauen
       rücken nach oben, dann antwortet er sehr konkret: „Dass Kollegen keine
       Zeugen mehr für 9 Uhr laden und dann stundenlang im Flur warten lassen.“
       Oder dass man diese dann nach Stunden per Lautsprecherdurchsage „mit Dank
       entlassen“ würde, ohne dass sie überhaupt in den Zeugenstand gerufen
       wurden, weil der Angeklagte bereits geständig war. Zeugen, die Opfer einer
       Straftat werden, haben das Recht, gehört zu werden, sagt Dieckmann. So wie
       der Täter auch. Jeder hat seine Geschichte mit der Geschichte, und die
       Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
       
       31 Dec 2014
       
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   DIR Sabine Seifert
       
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