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       # taz.de -- Stand beim NSU-Prozess in München: „Die gesamte Anklage ist bestätigt“
       
       > Seit 172 Verhandlungstagen stehen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche
       > NSU-Helfer vor Gericht. Viele Fragen sind noch offen. Eine
       > Zwischenbilanz.
       
   IMG Bild: Verzieht keine Miene: Beate Zschäpe vor Gericht
       
       Beate Zschäpe schweigt. Auch am letzten Verhandlungstag vor der
       Winterpause, dem 17. Dezember, sagt die Hauptangeklagte im NSU-Verfahren
       kein einziges Wort.
       
       Es ist seit dem 6. Mai 2013, dem ersten Prozesstag, immer das gleiche Bild,
       dreimal die Woche im Saal A101 des Oberlandesgerichts München: Durch eine
       Seitentür betritt die 39-Jährige den Raum, geht schnell zur Anklagebank,
       dreht sich von den Kameras weg und redet nur mit ihren Verteidigern. Dann
       sitzt sie ruhig da und verzieht keine Miene.
       
       Sie ließ sich keinerlei Regung anmerken, weder als Ayse Yozgat, die Mutter
       des ermordeten Halit Yozgat, sie anflehte, zu reden, noch als
       Autopsiebilder von ihren verstorbenen Freunden Uwe Mundlos und Uwe
       Böhnhardt gezeigt wurden.
       
       ## 
       
       Die Bundesanwaltschaft sieht Zschäpe als Gründungsmitglied des NSU und als
       Mittäterin bei den zehn Morden, den Sprengstoffanschlägen und 15
       Raubüberfällen, mit denen das Trio seinen Lebensunterhalt finanzierte. Dass
       sie als Mitglied einer terroristischen Vereinigung – nach bisherigem
       Kenntnisstand – an keinem der Tatorte war, spielt dabei keine Rolle. Als
       versuchter Mord wird in der Anklage gewertet, dass sie nach dem Auffliegen
       des NSU ihr Haus in Zwickau in Brand gesetzt haben soll. Denn dabei
       gerieten eine Nachbarin und zwei Handwerker in Lebensgefahr.
       
       Vor diesem Hintergrund dürfte eine Aussage während der bislang 172
       Verhandlungstage die Angeklagte besonders erschüttert haben. Ihr ehemaliger
       Mitstreiter Tino Brandt, der frühere Chef des „Thüringer Heimatschutzes“
       und langjährige V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes, sprach zwar am
       128. Verhandlungstag von einem Schauprozess, sagte über Zschäpe aber
       bemerkenswerte Dinge aus. Sie sei „keine dumme Hausfrau“, sondern eine
       ideologisch Gefestigte, die sich mit „Fachwissen zum Germanentum“ an
       „politischen Sachen“ beteiligt habe. Keineswegs habe sie „in der Ecke
       gestanden und Trübsal geblasen“. Nach dieser Vernehmung wollte Zschäpe
       ihren Verteidigern Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm das
       Vertrauen entziehen. Ihr dürfte klar geworden sein, dass Brandt sie stark
       belastet, sagt Mehmet Daimagüler, Anwalt von zwei Opferfamilien.
       
       „Die Beweisaufnahme spiegelt die Anklage und die Ermittlungen wider“, sagt
       eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft der taz. Daimagüler wird deutlicher:
       „Im Verfahren ist längst die gesamte Anklage gegen Zschäpe bestätigt
       worden.“
       
       Das Verhältnis zwischen Zschäpe und ihren Verteidigern scheint sich schnell
       wieder normalisiert zu haben. In dem Gerichtssaal an der Nymphenburger
       Straße stellte Anwalt Heer Zschäpe wieder eine Dose Pfefferminzbonbons hin.
       Wiedergewonnenes Vertrauen sollte das signalisieren. Die Versuche der
       Verteidiger, das Verfahren in Zschäpes Sinne zu beeinflussen, blieben
       bislang erfolglos. Befangenheitsanträge wurden abgeschmettert.
       
       ## 
       
       Vier mutmaßliche NSU-Helfer stehen in München vor Gericht. Carsten S. und
       Holger Gerlach sagten vor dem Prozess bei der Polizei aus. Gerlach hatte
       seinen Freunden bis zum Ende geholfen, ihnen eine Waffe übergeben und
       später auch Papiere besorgt. Er entschuldigte sich bei den Angehörigen der
       Opfer. Auch Carsten S., der sich schon lange von seiner Nazi-Vergangenheit
       distanziert hatte, zeigte Reue.
       
       Die zwei weiteren Mitangeklagten schweigen so wie Zschäpe. Ralf Wohlleben
       und André Eminger sind fest in der rechtsextremen Szene verankert. Den
       Vorwurf, dass Wohlleben die Ceska 83, eine der Mordwaffen, organisiert hat,
       konnten seine Verteidiger nicht entkräften. Vor allem von Carsten S. wird
       er stark belastet. Neben Zschäpe ist Wohlleben der einzige der Angeklagten,
       der noch in Untersuchungshaft sitzt.
       
       Eminger, auf dessen Oberkörper „Die Jew Die“ (Stirb, Jude, stirb)
       eintätowiert ist, sendet vor Gericht stumme Botschaften: Er zeigt sich
       betont desinteressiert. Mit seiner Familie gehört er zu den längsten und
       persönlichsten Unterstützern des Trios. Am 4. November 2011, dem Tag des
       zufälligen Auffliegens des NSU-Kerntrios, rief Zschäpe ihn an. Dann bekam
       Susann Eminger von ihrem Mann eine SMS. Kurze Zeit später soll sie Zschäpe
       getroffen und ihr Kleidung für die Flucht übergeben haben.
       
       ## 
       
       Über 300 Zeugen sind bereits vor Gericht befragt worden. Und viele blieben
       äußerst wortkarg. Susann Eminger etwa nutzte am 76. Verhandlungstag ihr
       Zeugnisverweigerungsrecht, weil sie sich sonst unter Umständen selbst
       belasten würde. Besonders Zeugen aus der rechtsextremen Szene konnten sich
       fast immer angeblich schlecht erinnern. Sie blieben im Ungefähren oder
       spielten alles herunter.
       
       Anja B. wollte am 170. Verhandlungstag erneut die Neonazi-Organisation
       Blood & Honour als nette Stammtischrunden mit Musik darstellen. Keine
       Überraschung, sie selbst war Teil des Netzwerks, das den dreien nach ihrem
       Untertauchen 1998 Wohnungen, Geld und Waffen organisierte. „Diese Zeugen
       lügen nicht bloß, um sich eventuell selbst zu schützen“, sagt Alexander
       Hoffmann. Der Anwalt eines Opfers des Bombenanschlags in der Kölner
       Keupstraße glaubt: „Die schweigen auch aus einer tiefen Verbundenheit.“
       
       Mit Spannung wurden die Auftritte weiterer ehemaliger
       Verfassungsschutzspitzel erwartet, etwa der von Carsten Szczepanski alias
       „Piatto“. Aber auch die V-Männer zeigten, so wie ihre V-Mann-Führer,
       erstaunliche Erinnerungslücken. „Dass die Zeugen aus der rechtsextremen
       Szene ohne Konsequenzen schweigen oder lügen könnten, erschüttert unsere
       Mandanten“, sagt Antonia von der Behrens, die als Nebenklageanwältin die
       Angehörigen des ermordeten Mehmet Kubasik vertritt. Das Verhalten der
       Verfassungsschutzmitarbeiter sei nicht minder skandalös: „Das Ausmaß des
       NSU wird so weiterhin nicht aufgeklärt.“
       
       ## 
       
       Der Prozess brachte auch Neues ans Licht – dank Carsten S. Schon 1999
       sollen die beiden Uwe in Nürnberg einen Bombenanschlag verübt haben, sagte
       er vor Gericht aus. In der Kneipe Sunshine, die ein Wirt aus der Türkei
       führte, sollen sie eine Taschenlampe platziert haben. Als eine Putzkraft
       diese einschalten wollte, explodierte der Sprengsatz und verletzte den Mann
       leicht.
       
       Keine neuen Erkenntnisse konnten im Verfahren bisher über das Attentat auf
       die Polizisten Michèle Kiesewetter und Martin A. in Heilbronn 2007 gewonnen
       werden – den letzten Mord, der dem NSU zugeschrieben wird. In dem
       Bekennervideo, das Zschäpe auf der Flucht verschickte, prahlt der NSU mit
       der Ermordung von Kiesewetter. Warum gerade sie zum Opfer wurde, ist eines
       der größten Rätsel im NSU-Komplex.
       
       Immer wieder offenbarten Zeugenaussagen, dass die Ermittler damals jede
       Aussage von Angehörigen und Nachbarn, die in die rechte Szene wies,
       ignorierten. Am 37. Verhandlungstag sagte Ali Tasköprü aus, der seinen Sohn
       Süleyman am 27. Juni 2001 im Gemüseladen in der Hamburger Schützenstraße
       niedergeschossen auffand. Wenige Stunden später habe er der Polizei
       berichtet, dass er zwei Männern begegnet sei: groß, schlank, zwischen 25
       und 30 Jahren und Deutsche, keine Südländer. Eine Spur von vielen, die nie
       verfolgt wurden.
       
       ## 
       
       Die bisherige Verhandlung hat viele, die von den NSU-Morden betroffen sind,
       ernüchtert. Für sie ist es unerträglich, keine Antwort zu erhalten, warum
       ausgerechnet ihr Mann, ihr Vater, ihr Sohn oder Bruder ermordet wurde. „Die
       Hoffnungen unserer Mandanten wurden enttäuscht“, sagt Rechtsanwältin
       Behrens. Vor allem das „große Verständnis für die Rechtsextremen und die
       unwidersprochenen Aussagen der Geheimdienstler“ ließen Zweifel am
       Aufklärungswillen aufkommen, sagt Rechtsanwalt Daimagüler.
       
       Im Saal A101 folgte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl lange der Annahme
       der Bundesanwaltschaft, dass das Trio nahezu isoliert agierte, unterstützt
       nur durch einen kleinen Kreis von Vertrauten. Fragen von Nebenklägern zum
       weiteren rechtsextremen Umfeld ließ er kaum zu. In den letzten Wochen hat
       Götzl aber begonnen, Zeugen auch nach den größeren Strukturen zu befragen,
       etwas nach dem „Blood & Honour“-Netzwerk, von dem das Trio Hilfe bekam.
       „Ich glaube, da hat das Nachfassen von uns etwas bewegt“, sagt
       Nebenklagevertreter Hoffmann.
       
       ## 
       
       Am 12. Januar 2015 wird in Saal A101 wieder verhandelt. Erstmals wird es um
       den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße gehen, bei dem am 9. Juni
       2004 22 Menschen teils schwer verletzt wurden. Das Gericht hat
       Verhandlungstermine bis zum Januar 2016 angesetzt.
       
       27 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Speit
       
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