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       # taz.de -- Wachstum in den Schwellenländern: Der Armut entronnen
       
       > 150 Millionen Menschen werden im kommenden Jahr in die Mittelschicht
       > aufsteigen – Porträts aus Argentinien, China und Südafrika.
       
   IMG Bild: Immer mehr Menschen lassen die Sorge um die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse hinter sich.
       
       Der Traum von einem besseren Leben wird sich nächstes Jahr für etwa 150
       Millionen Menschen erfüllen. So viele werden nach Berechnungen der
       Vereinten Nationen 2015 in die globale Mittelschicht aufsteigen. Seit
       Jahren wächst ihr Anteil an der Weltbevölkerung – Jahr um Jahr schneller.
       
       Der Grund dafür ist das anhaltende Wirtschaftswachstum von Schwellenländern
       in Asien, Afrika und Lateinamerika. Mehr als eine Milliarde Menschen haben
       so in den vergangenen 15 Jahren die Armut überwunden. Zwar leben noch immer
       große Teile der Menschheit in Not. Doch die Wahrscheinlichkeit, innerhalb
       einer Generation aufzusteigen, ist heute höher denn je. Diese Entwicklung
       wird anhalten.
       
       Die in die Mittelschicht Aufgestiegenen können pro Tag mehr als 10, aber
       weniger als 100 Dollar ausgeben – so definiert es die Organisation für
       wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Ihr Leben ist nicht
       mehr bestimmt von der ständigen Sorge um die Befriedigung der
       grundlegendsten Bedürfnisse. An Stelle von Hunger und Existenzangst treten
       Sicherheit und Konsummöglichkeiten: Häuser, Kühlschränke, Reisen.
       
       Das westliche Konsummodell aber kann nur existieren, solange der Großteil
       der Weltbevölkerung außen vor bleibt. Die ökologischen Ressourcen sind
       begrenzt, die Erde wird immer stärker belastet. Ein Leben, wie wir es
       führen, wird niemals für alle möglich sein. Verteilungskämpfe werden
       zunehmen – oder ein Weg wird gefunden, wirklich nachhaltig zu wirtschaften.
       
       Was für den Planeten zur Katastrophe werden könnte, ist für den Einzelnen
       oft das Lebensglück. Drei Aufsteiger berichten, wie sie die Armut, in die
       sie hineingeboren wurden, hinter sich gelassen haben.
       
       ## Sebastián Sánchez, 35, Mechaniker aus La Tablada, Argentinien:
       
       Der Vater einer meiner besten Nachbarsfreunde hatte eine Werkstatt, und
       dessen Mutter ließ mir ab und an was zukommen. Einmal hatte ihr Sohn
       nagelneue Turnschuhe, und ein paar Tage später gab sie mir ebenfalls neue.
       Die würden ihrem Sohn zu klein sein. Heute weiß ich, dass sie mir die
       geschenkt hat, weil meine ziemlich am Ende waren. Mein Vater, Arbeiter, hat
       die Grundschule nicht zu Ende machen können. Meine zwei Schwestern haben
       heute Uniabschlüsse, sprechen drei bis vier Sprachen. Allein das ist ein
       Riesensprung in meiner Familie.
       
       Ich bin der Jüngste und mein Vater hat mir immer gesagt: „Das Einzige, was
       ich von dir verlange, ist, dass du einen Schulabschluss machst." Mit 15
       Jahren ging ich auf eine Mechanikerschule in Floresta. Genau in dieser Zeit
       wurde mein Vater über Nacht entlassen. Wir lebten ein Jahr vom Einkommen
       meiner großen Schwester. Das prägt. Es gab keinen anderen Weg, als zu
       lernen, um voranzukommen. Mein Vater stellte mich einem Freund vor, der im
       Stadtteil Palermo eine Werkstatt hatte. In den Ferien arbeitete ich dort,
       lernte feilen und schleifen. Mit 19 habe ich meine erste Stelle als
       Mechaniker angefangen. Ich hatte Glück, damals gab es wenig Arbeit.
       
       Mein Vater hatte nie ein Auto. Ich habe mir mein erstes mit 20 gekauft. Ich
       war immer auf der Suche nach einem besseren Arbeitsplatz und besserem
       Verdienst - mal hier, mal dort. 2008 fing ich an, meine eigene kleine
       Werkstatt einzurichten, dank eines Kredits. Nach der Krise von 2009 zahlte
       fast keiner mehr seine Rechnung. 2010 musste ich schließen.
       
       Einen Monat später hätte ich bei einer Firma angestellt werden können, aber
       ich bestand den Gesundheitscheck nicht. Kein Geld, keine Gesundheit. Ich
       ging zu Fuß, um Fahrgeld für den Bus zu sparen, lief mit leerem Magen
       herum. Ich musste persönliche Sachen verkaufen, um über die Runden zu
       kommen.
       
       Ich bewarb mich bei einer Fabrik, 80 Kilometer außerhalb. Eine Woche später
       bekam ich den Vertrag, Arbeitsklamotten, Stiefel. Ich ging zum Auto und
       weinte vor Glück. Zwei Monate später ging mein Auto kaputt. Nur mit einem
       Kredit konnte ich mir einneues leisten. Mit meiner Frau fing ich an, nach
       Wohnungskrediten zu suchen. Statt mit einer Dreiraumwohnung im Stadtzentrum
       mussten wir mit einer Einraumwohnung in einem Außenbezirk vorliebnehmen.
       Die haben wir gekauft.
       
       Überall wird Personal eingespart. Deshalb habe ich letztes Jahr neben der
       Arbeit auf einer Technikerschule für Flugzeugbau angefangen - mein großer
       Traum. Vor fünf Jahren musste ich noch persönliche Dinge verkaufen, um über
       die Runden zu kommen. Heute habe ich ein Auto und eine eigene Wohnung, bin
       aber verschuldet. Im Januar werde ich Vater. (Protokoll: Jürgen Vogt) 
       
       ## Wang Cong, 39, Kunsthändler aus Peking, China:
       
       Neulich habe ich mir einen echten Luxus geleistet. Ich habe eine Schweizer
       Uhr für umgerechnet 15.000 Euro gekauft. Damit hatte ich seit Jahren
       geliebäugelt. Sie hat ein Keramikgehäuse und ist deswegen kratzfest. Die
       Ziffern sind aus Weißgold und leuchten im Dunkeln. Pervers, ich weiß: So
       viel Geld hat mein inzwischen verstorbener Vater sein gesamtes Leben nicht
       verdient.
       
       Ich komme aus sehr armen Verhältnissen. Meine Eltern waren Bauern in einem
       abgelegenen Dorf in der Provinz Henan. Ich erinnere mich an den Staub, der
       von der mongolischen Steppe zu uns herüberwehte. Drei Geschwister sind wir.
       Wir alle konnten nicht von dem uns zugeteilten Land leben. Mit Sechzehn
       verließ ich mein Dorf.
       
       In Peking fand ich Anstellung in einer Autowerkstatt. Viele Aufträge gab es
       dort nicht. Heute kaum vorstellbar, aber noch in den 90er Jahren hatten nur
       wenige Pekinger ein Auto. Während wir auf Kundschaft warteten, begann ich
       zu zeichnen - erst mit Bleistift, dann mit Wasserfarbe.
       
       Ich fand eine Unterkunft in einer Barackensiedlung in Songzhuang, ein
       damals noch ländliches Dorf am Stadtrand von Peking. Das war mein Glück. In
       der Nachbarschaft hatten Künstler ihre Werkstätten errichtet. Ich freundete
       mich mit einem Künstler an. Eines Abends sagte er mir, dass jemand meine
       Bilder kaufen wolle. Für 150 Yuan - ein Vermögen (entsprach damals 100 DM,
       d. Red.)!
       
       Heute betreiben wir eine Galerie. Ich selbst male nicht mehr. Wir verkaufen
       Bilder von anderen Künstlern. In diesem Jahr haben wir unser Gelände auf
       mehr als 1.000 Quadratmeter erweitert. Inzwischen gibt es immer mehr
       zahlungskräftige Privatkunden. Besonders gut verkaufen sich Künstler aus
       Songzhuang, die in Europa malen. Wir erwägen, ein Atelier in Paris zu
       eröffnen. (Protokoll: Felix Lee) 
       
       ## Wendy Ragedi, 45, Beamtin aus Johannesburg, Südafrika:
       
       Hungern musste ich früher nicht. Aber viel Geld hatten wir auch nicht. Ich
       lebte mit meiner Familie in Rundhütten in einem kleinen Dorf namens Mamere.
       Etwa zwanzig Leute wohnten dort. Meine Mutter arbeitete als Haushaltshilfe
       bei Weißen in Johannesburg, meinen Vater hatte ich nie kennengelernt.
       
       Meine Großeltern haben Mais angebaut, hielten Schafe und Ziegen. Es gab
       keinen Strom, nur Kerzenlicht und Paraffinlampen. Wasser holten wir aus dem
       Fluss. Zur nächsten Klinik gingen wir zwei Stunden zu Fuß, zur Schule auch.
       Manchmal ging ich barfuß. Oder meine Verwandten hatten alte Schuhe aus den
       weißen Haushalten mitgebracht.
       
       Ich war 23 Jahre, als ich nach Johannesburg ging. Ich hatte Abitur, wollte
       mehr aus mir machen. Meine Mutter gab mir Geld für ein Diplom in Tourismus.
       Ich zog damals ins Township Alexandra in eine Wellblechhütte. Meine Tochter
       war damals ein Jahr alt – heute ist sie 22 und studiert.
       
       Die Hütte in „Alex“ habe ich mit Steinen ummauert. Wir haben dort 18 Jahre
       gelebt. Ich wartete auf das von der Regierung versprochene Haus, doch es
       kam nicht. Um mein Kind zu ernähren, habe ich einfache Jobs gemacht, Putzen
       und Aushilfsjobs.
       
       Mit harter Arbeit erhielt ich eine Stelle im Ministerium für Erziehung, im
       Personalbereich. Nach einiger Zeit stieg ich zur Dienstvorgesetzten auf.
       Als meine Tochter Magki volljährig wurde, habe ich ein kleines Häuschen in
       einer Neubausiedlung mit einem Bankkredit gekauft. Abends habe ich nach der
       Arbeit noch Kurse an der Uni belegt und dieses Jahr endlich mein Diplom in
       Personalmanagement erhalten. Wir haben alles Notwendige. Von meinem Gehalt
       muss ich das Haus abbezahlen. (Protokoll: Martina Schwikowski)
       
       23 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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