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       # taz.de -- Krieg gegen Weihnachten: Kastrationsangst im Abendland
       
       > Pegida und angeschlossene Medienanstalten ziehen unsere
       > Weihnachtstraditionen in den Dreck. Doch Rettung naht – in der Dönerbude
       > an der Ecke.
       
   IMG Bild: Nein, kampflos wird der Weihnachtsmann das Feld nicht räumen!
       
       Sollte es wider Erwarten doch einen Weihnachtsmann geben, so täte der gut
       daran, dieser Tage einen weiten Bogen um Dresden zu machen. Denn mit seinem
       Rauschebart und seinem Hang zur ortsunüblichen Bekleidung liefe er dort
       Gefahr, als vermeintlicher Islamist rasch eins auf die Zipfelmütze zu
       bekommen. Ganz abgesehen von seinen Zugtieren, mit denen er das
       traditionelle heimische Rotwild zu überfremden droht.
       
       Von Amerika ferngesteuert ist er noch zudem. Nein, in Pegidastan hätte er
       ebenso wenig eine Chance wie Maria und Joseph, denen man sehr dringend
       davon abraten müsste, dort nach einer Herberge zu fragen.
       
       Ach, das Abendland! Es muss ihm schon wirklich verdammt dreckig gehen, wenn
       sich zu seiner Rettung allen Ernstes Gestalten wie diese Dresdner
       Desperados vor die Semperoper stellen können, ohne einfach ausgelacht zu
       werden. Jetzt also, um auch noch Weihnachten zu retten.
       
       Zu diesem Zweck [1][versuchten am Montag 17.500 Abendländer], die jeweils
       ersten Strophen von „Stille Nacht“, „Oh du Fröhliche“ und „White
       Christmas“, Quatsch, von: „In der Weihnachtsbäckerei“, nein, auch nicht,
       natürlich von „Alle Jahre wieder“ ungelenk aufzusingen. Und sollte es
       wieder Erwarten doch einen Gott geben, so wird er an diesem Abend
       ausgesprochen viel verständnisvolle Güte aufgebracht haben müssen, um nicht
       sehr traurig zu werden oder sich heimlich fluchend zu fragen, ob es nicht
       doch die bessere Idee gewesen wäre, charakterlich etwas ausgeglichenere
       Repräsentanten seiner Schöpfung wie etwa Nacktmull, Dreizehen-Faultier oder
       Schabrackentapir zu seinem Ebenbild erklärt zu haben.
       
       ## Realität war gestern
       
       Unabhängig von der beschämenden musikalischen Qualität des Dresdner
       Gefangenenfanchores bleibt vor allem die Frage offen, wie ausgerechnet
       Leute, die es nötig haben, Textblätter in Anspruch zu nehmen, um gerade mal
       die ersten Strophen der wirklich allerpopulärsten Lieder zum Fest überhaupt
       auf die Reihe zu kriegen, das Weihnachtsfest retten sollen.
       
       Aber um Realitäten geht es in der aktuellen Debatte ja ohnehin nicht. Die
       Angst vor dem Verlust von Weihnachten ist eher eine Zwangsphantasie von
       Leuten, bei denen offenbar auch sonst allerhand nicht rund läuft. Seit
       einigen Jahren taucht sie regelmäßig immer wieder auf, angefeuert von
       irgendwelchen Bagatell-Ereignissen, real oder frei erfunden.
       
       Es mag ja sein, dass der ein oder andere im angelsächsischen Raum aus einem
       etwas eigentümlichen Verständnis von Rücksichtnahme gegenüber anders oder
       gar nicht Gläubigen gewünscht hat, dass man lieber „happy holidays“ als
       „merry christmas“ sagen soll. Aber abgesehen davon, dass es eine vielleicht
       doch noch ein kleines bisschen wichtigere abendländische Errungenschaft
       ist, dass jeder seine Wünsche, Vorstellungen und Meinungen frei äußern
       kann, hat man nach einem flüchtigen Blick über eine x-beliebige
       Fußgängerzone einer westeuropäischen Stadt im Dezember nicht unbedingt den
       Eindruck, als stünde das Ende von Weihnachten unmittelbar bevor.
       
       ## Erfundene Anlässe
       
       Schon mal gar nicht in Deutschland, wo es solche Diskussionen bislang
       überhaupt nicht gibt. Was für Teile der Presse ein bisschen schade ist,
       denn mit kaum etwas lässt sich so zielsicher Aufregung produzieren wie mit
       einer Meldung darüber, dass unser Grundrecht auf hemmungsloses
       Weihnachtsfeiern eingeschränkt werden könnte. Also müssen entsprechende
       Anlässe eben einfach erfunden werden.
       
       Aber dafür haben wir ja die „Lügenpresse“, der interessanterweise vor allem
       Pegida-Anhänger Glauben zu schenken scheinen. Die nämlich schrieb via B.Z.
       schon im letzten Jahr über Kreuzberg, ohnehin ja bekanntlich Berlins
       Gazastreifen: „Kreuzberg verbietet Weihnachten.“ Endlich, mochte da manch
       einer der Bewohner aufgeatmet haben, aber die Hoffnung trog.
       
       Abgesehen davon, dass es lediglich um die Benennung von Weihnachtsmärkten
       ging, durfte und darf die auch in Zukunft jeder nennen, wie er mag. Was
       aber schon damals allerlei Weihnachtsmänner nicht daran hinderte, den
       Quatsch vom oh du fröhlichen Verbot zu verbreiten.
       
       Peter Hahne etwa schrieb in der Bild am Sonntag: „Der Bezirk Kreuz(!)-berg
       müsste dann seinen Namen und sein Wappen verlieren; es sei denn, diese
       geschichtslosen Gutmenschen glauben, es handele sich um ein Autobahnkreuz.“
       Ja, es ist schon ein Autobahnkreuz mit diesen Abendländern. Aber obwohl der
       Bezirk die Dinge seither gebetsmühlenartig richtiggestellt hat, kamen die
       geschichtslosen Bösmenschen in diesem Jahr schon wieder mit derselben Leier
       um die Ecke.
       
       ## Gesang als Terrorismus
       
       „Haben wir nicht alle Lichter am Baum?“, fragte bang abermals die BamS. Was
       man nun als neutraler und der deutschen Sprache halbwegs mächtiger
       Beobachter zunächst naheliegenderweise als überraschenden Anflug von
       Selbsterkenntnis der Redakteure dort vermuten würde, [2][entpuppte sich als
       der Weihnachtsmarkt-Unsinn] vom Jahr zuvor, der uns vermutlich demnächst so
       unabänderlich begleiten wird wie das „Dinner for One“ zu Silvester.
       
       Weil aber 150.000 sich selbst blamierende Pegida-Deppen noch viel bessere
       Schlagzeilen produzieren würden als nur 15.000, hat Bild an diesem Montag
       noch einmal nachgelegt: „Politiker fordern: Christen sollen im
       Weihnachts-Gottesdienst muslimische Lieder singen.“ Angesichts des
       abendlichen Gekrächzes in Dresden fast schon ein Terror-Plot. Das möchte
       man jedenfalls keinem Muslim im Lande wünschen, dass er das hören müsste.
       
       Offenbar stammte dieser Vorschlag allerdings keineswegs von den im Artikel
       dann genannten Politikern, [3][sondern vielmehr von der Bild selbst], die
       damit an verschiedene Politiker und muslimische Funktionäre herangetreten
       war (und die das im Übrigen nicht einmal generell eine gute Idee fanden,
       sondern nur, wenn sozusagen im Austausch dann auch in Moscheen christliches
       Liedgut erklänge). Was aber von Spiegel bis FAZ niemanden daran hinderte,
       die Bild-Geschichte munter weiterzuverbreiten, mit den zu erwartenden
       hyperventilierenden Reaktionen in den sozialen Netzwerken und vom
       CDU-Taliban Wolfgang Bosbach, der umgehend klarstellte, dass „Weihnachten
       kein Hochamt für Multikulti“ sei.
       
       ## Weihnachtlicher Dönerspieß
       
       Die Furcht vor der Entweihnachtung muss das folkloristische Pendant zur
       Kastrationsangst sein. Und je kleiner der eigene Schniedel, desto größer
       die Sorge, irgendjemand könnte sich daran vergreifen wollen. Wer sich ein
       bisschen in deutschen Stadtteilen auskennt, wo tatsächlich zahlreiche
       Muslime leben, weiß jedenfalls, dass es vielen herzlich egal ist, ob und
       wie die anderen Deutschen Weihnachten feiern. Noch mehr allerdings scheinen
       fröhlich einfach mitzutun: Peinlichkeiten, wie die erste Strophe von „Alle
       Jahre wieder“ nicht auswendig zu kennen, unterlaufen den Migranten dort in
       aller Regel nicht.
       
       Und wenn die Bezirksverwaltung oder die Geschäftsleute auch aus Spargründen
       keine Adventsbeleuchtung mehr an der Einkaufsstraße anbringen lassen – die
       Letzten, die noch trotzig Weihnachtslichterketten und Sprühwatte in die
       Schaufenster kleben, sind oft die Döner-Buden, die sich auch gleich noch
       einen Weihnachtsbaum neben den Drehspieß stellen.
       
       Die Einzigen hingegen, die tatsächlich regelmäßig gegen die deutsche Art
       des Feierns von Weihnachten agitieren, sind die christlichen Kirchen.
       Alljährlich beklagen sie, zwischen all dem Konsum, Kommerz und dem bloßen
       Verkommen zum folkloristischen Ritual gehe die Bedeutung des Festes unter.
       Die beste Bestätigung dafür liefert Dresden. Wenn irgendwer es tatsächlich
       schaffen sollte, Weihnachten in Deutschland ernsthaft zu gefährden, dann
       ist es Pegida.
       
       24 Dec 2014
       
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