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       # taz.de -- Debatte Folter: Kein inneres Refugium mehr
       
       > Der US-Folterbericht zeigt: Wir machen es uns zu einfach, wenn wir eine
       > klare Grenze zwischen „Unrechtsstaat“ und „Rechtsstaat“ ziehen.
       
   IMG Bild: Ausstellung des Künstlers Fernando Botero in Monterrey. Die Bilder beziehen sich auf die Folter im US-Gefängnis Abu Ghraib, Irak.
       
       Neulich musste ich durch ein halbes Dutzend Zeitzonen fliegen. Nach meiner
       Ankunft in Mitteleuropa war meine biologische Uhr auf den Kopf gestellt,
       die 12 mit der 6 vertauscht, ich wachte zu jeder Nachtzeit auf und fühlte
       mich müde. Nein, das trifft es nicht, eher erschlagen. Aber auch das wäre
       eine ungenaue Beschreibung. Ich lag neben mir, war keines Gedanken fähig
       und nicht in der Lage, etwas Komplexeres als die Wettervorhersage zu lesen.
       Ich war, bei akkumulierter Schlaflosigkeit, zu nichts zu gebrauchen.
       
       Nach einigen Tagen, nach zehn Stunden eines Tiefschlafs, der sich eines
       Nachts unangekündigt einstellte, war ich halbwegs wiederhergestellt. Wie
       mag es wohl jenen Menschen ergehen, denen absichtlich Schlaf entzogen wird,
       tage-, wochen- oder gar monatelang? Oder denen, deren Schlaf ein für
       allemal (wie einem mir bekannten Folteropfer) zerschlagen worden ist?
       
       Das ganze Jahr über habe ich an einem Roman gearbeitet, der unter dem Titel
       „Macht und Widerstand“ das Verhältnis zwischen Staat und Individuum
       behandelt, anhand von Beispielen aus dem kommunistischen und
       postkommunistischen Bulgarien. Der Roman basiert auf mündlichen und
       schriftlichen Zeugnisse einer Vielzahl ehemaliger politischer Häftlinge
       sowie einiger Offiziere a. D. der Staatssicherheit. Die Lektüre des „Senate
       Select Committee on Intelligence“ über die Folterpraktiken des CIA war für
       mich vor diesem Hintergrund ein beklemmendes, erschreckendes
       Déjà-vu-Erlebnis.
       
       Offenbar existiert ein universelles Arsenal an Foltertechniken. Ob in einem
       bulgarischen Keller, an einem geheimen Ort im Baltikum oder in einer Zelle
       in Guantánamo, Gefangene werden gezwungen, tagelang aufrechtzustehen (oft
       nackt), sie werden geschlagen, sobald sie ihre Augen schließen, sie werden
       mit Lärm bombardiert (die Palette reicht von Volksliedern bis zu Heavy
       Metal). Schlafentzug ist besonders perfide und brutal, weil es dem Häftling
       (wie ich aus einer Vielzahl von Interviews mit Überlebenden erfahren
       konnte) jenen Freiraum raubt, den er sich sogar in einem Kerker bewahren
       kann: ein inneres Refugium, in das er sich zurückziehen kann, sodass er
       sich durch die Kraft seiner Überzeugungen und Hoffnungen nicht nur aufrecht
       halten, sondern seine Würde verteidigen kann.
       
       ## Déjà-vu dank CIA-Bericht
       
       „Ohne Macht“ zu sein bedeutet keineswegs, „ohnmächtig“ zu sein. Wenn aber
       der Schlaf geraubt wird, wird man über kurz oder lang ohnmächtig. Die
       Folterer halten eine Fernbedienung in den Händen, mit denen sie den Geist
       des Häftlings manipulieren können. Dieser wird zu einem ferngesteuerten,
       durchherrschten Halbwesen. Schlaflos verliert er die letzten Fetzen seiner
       Freiheit. Schlafentzug ist ein unmenschlicher Akt, der die Grundfeste der
       Humanität des Häftlings zerstört.
       
       Es ist kein Zufall, dass diese Foltermethode gepaart wird mit vulgären
       Strategien der Entwürdigung. Unvergesslich, wie ein ehemaliger politischer
       Häftling mir erzählte, dass ihm bei der Verhaftung der Gürtel abgenommen
       worden war und er in „Untersuchungshaft“ extrem abgenommen habe, bis er
       gezwungen war, seinen Hosenbund mit beiden Händen festzuhalten.
       
       Wann immer Schläge auf seinen Kopf (bevorzugt gegen beide Ohren)
       niedergingen, riss er die Hände hoch, um sich instinktiv zu schützen,
       sodass die Hose hinabrutschte und die Schergen sich über seine verletzliche
       Nacktheit geifernd erheiterten. Schmerzlicher als die folgenden Schläge
       gegen seine Genitalien war das Gefühl einer tiefen Scham, wiederum ein
       Angriff gegen seine Integrität als Mensch.
       
       In dem nun veröffentlichten Bericht des US-amerikanischen Senats wird eine
       Reihe von Beispielen solcher „Verhörtechniken“ genannt, entsprungen einer
       perversen Fantasie der Erniedrigung und Entwürdigung des Opfers. Verstörend
       auch die Frage, woher die „Ideen“ kamen, welches kranke Hirn sie sich
       ausgedacht hat und ob die Zuständigen von den Erfahrungen früherer
       systematischer Folter „profitiert“ haben. Wenig diskutiert wird in diesem
       Zusammenhang ein weiteres Skandalon: Zwei Psychiater wurden (Honorar 81
       Millionen US-Dollar, Folter kann ein einträgliches Geschäft sein)
       beauftragt, effizientere, effektvollere „Verhörtechniken“ auszuarbeiten und
       die CIA-AgentInnen darin zu schulen.
       
       Die Namen dieser zwei Verbrecher lauten: James Elmer Mitchell und Bruce
       Jessen. Es handelte sich somit um einen (wiederum altbekannten) Missbrauch
       der Medizin zum Zwecke der Folter. Erinnern Sie sich, wie sehr sich die
       Öffentlichkeit im Westen empört hat, dass in der Sowjetunion die
       Psychiatrie gegen Dissidenten missbraucht wurde? Die Psychiater haben wohl
       Anregungen von den im Koreakrieg angewandten „Verhörmethoden“ der Chinesen
       übernommen.
       
       ## Freibrief zum Verbrechen
       
       Augenfällig sind die Parallelen auch bei der Selbstrechtfertigung. Da
       damals wie heute stets davon ausgegangen wird, dass das Handeln der
       Beamten, Agenten, Polizisten, Offiziere grundsätzlich zum Schutze des
       Vaterlands und zur Verteidigung der nationalen Sicherheit erfolgt und von
       daher a priori rechtens und notwendig und ehrenhaft ist, können solche
       Verbrechen per se nicht systemimmanent sein, sondern werden als „Fehler“
       entschuldigt. Selbst wenn innerhalb der CIA jemand den Mut aufbrachte,
       Beschwerde gegen eine Kollegin oder einen Kollegen einzulegen, wurde keine
       Strafmaßnahmen gegen die betroffene Person eingeleitet, weil „in diesem
       Geschäft mit der Unsicherheit Fehler zu erwarten“ seien, so der ehemalige
       CIA-Chef Michael Hayden.
       
       Wer Repressionen zugunsten des Staatsapparates vornimmt, ist somit von
       strafrechtlicher Verantwortung befreit. Bis zum heutigen Tag ist ein
       einziger CIA-Mitarbeiter verurteilt worden, nämlich der Whistleblower John
       Kiriakou. In der Logik des Staates ist Wahrheit ein größeres Verbrechen als
       Folter.
       
       Offensichtlich machen wir es uns zu einfach, wenn wir eine klare Grenze
       zwischen „Unrechtsstaat“ und „Rechtsstaat“ ziehen, eine zu bequeme
       Dichotomie, die eine zum wiederholten Mal ruchbar gewordene Tatsache
       verschleiert, dass sich jeder Staat der Willkür bedient, sobald er es für
       notwendig erachtet.
       
       20 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilija Trojanow
       
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