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       # taz.de -- Podemos in Spanien: Der Himmel ist zum Greifen nah
       
       > Partei und Bewegung in einem: Podemos ist der neue Stern am politischen
       > Horizont des Landes. Ein Besuch bei der Basis in San Blas.
       
   IMG Bild: Der Vorsitzende von Podemos: Pablo Iglesias.
       
       MADRID taz | Beatriz de Lara kann stundenlang schwärmen. Die 31-jährige
       arbeitslose Ingenieurin redet nicht etwa von einem Hobby, von Musik oder
       Kino, sie redet von „einem politischen Werkzeug“. So nennt die junge Frau
       im Arbeiterviertel San Blas-Canillejas, unweit vom Madrider Flughafen, die
       Protestpartei „Podemos“ – (Wir können). Wie jeden Donnerstag ist „Betty“
       zum lokalen Círculo, dem Kreis von Gleichgesinnten gestoßen. Círculo heißen
       die Basisversammlungen der neuen Partei Podemos, die von dem Madrider
       Politikprofessor Pablo Iglesias seit jüngster Zeit auch offiziell angeführt
       werden. „Betty“ de Lara war von Anfang an dabei.
       
       „Wir hatten unser eigenes kleines 'Podemos' im Wohnzimmer“, sagt „Betty“
       und lächelt dabei. Mit „wir“ meint sie sich und ihren ebenfalls
       arbeitslosen Freund, der Flugzeugmechaniker Sergio. „Wir haben die
       Talkshows gesehen, in denen Pablo auftrat, und waren begeistert, allen war
       klar, dass wir dringend eine neue Bewegung brauchten.“
       
       Nicht nur für das Paar in San Blas ist Pablo Iglesias überall im Land der
       Star derjenigen, die unter den Folgen der Krise leiden. Der 36-Jährige
       Professor nimmt kein Blatt vor den Mund, redet von der Schuld der Banken,
       davon, dass Menschen und nicht Finanzinstitute gerettet werden müssen, von
       Zwangsräumungen, der Massenarbeitslosigkeit und von einer korrupten
       politischen Klasse, die eng mit den großen Unternehmen des Landes
       verbandelt ist. „Die Kaste“, nennt er sie.
       
       ## Erst 15M, dann Podemos
       
       De Lara und ihr Freund stammen aus der Bewegung der Empörten, der 15M, die
       nach der großen Demonstration am 15. Mai 2011 überall in Spanien
       Protestcamps errichteten. „Wir nahmen an den 15M-Stadtteilversammlungen
       teil, aber irgendwie ging da nichts voran. Wir warteten darauf, das irgend
       etwas passiert“, berichtet die junge Frau. Was, das wussten sie selbst
       nicht so recht. Doch als Iglesias dann Mitte Januar ankündigte, eine Liste
       für die Europawahl vorbereiten zu wollen, war de Lara sofort klar: „Das ist
       es, worauf wir gewartet hatten.“
       
       Zusammen mit einem Dutzend weiterer Nachbarn aus dem 15M in San Blas
       gründeten sie einen Unterstützerkreis für das, was dann später „Podemos“
       genannt wurde, noch bevor es überhaupt die Basisversammlungen gab. Als
       Wahlprogramm und Kandidatenliste für die Europawahl öffentlich im Internet
       zur Abstimmung standen, kandidierte de Lara, die nie zuvor einer Partei
       angehört hatte, und wurde auf den Listenplatz 32 gewählt: „Podemos“ gelang
       die Überraschung: 1,2 Millionen Stimmen (8 Prozent), 5 Sitze in Brüssel.
       
       Gerade einmal ein halbes Jahr ist das her und doch scheinen es Geschichten
       aus grauen Vorzeiten. „Alles geht so schnell und wir haben so wenig
       Erfahrung“, sagt de Lara. „Podemos“ hat sich mittlerweile – per offener
       Onlineabstimmung – Strukturen gegeben. 260.000 Menschen sind
       eingeschrieben. San Blas-Canillejas ist nur noch einer von über 1.000
       Kreisen im In- und Ausland. Bei den Umfragen liegt die Partei mal auf Platz
       2, mal sogar auf Platz 1. Eine große Überraschung scheint möglich.
       
       Aus dem kleinen Haufen, der um de Lara im Januar in San Blas anfing, sind
       über 50 Personen geworden, die sich Woche für Woche treffen. Den
       Stadtteilplatz haben sie gegen ein 200-Quadratmeter-Lokal im Erdgeschoss
       eines der vielen Wohnblocks aus den 1960er Jahren getauscht. Drei aus dem
       Kreis, die trotz Krise noch zu den Besserverdienenden gehören, finanzieren
       das.
       
       ## Wunsch nach einem Wechsel
       
       Jung und Alt, Männer und Frauen, Arbeiter und Akademiker, Arbeitslose und
       Rentner, es ist ein buntgemischter Haufen, der da zusammensitzt. Die
       meisten waren nie zuvor in einer Partei. Vieles geschieht zum ersten Mal.
       Deshalb gehören Vorträge zum festen Bestandteil der Tagesordnung.
       Gesetzliches Mindesteinkommen für alle, das Freihandelsabkommen zwischen
       Europa und den USA oder, wie heute, die bevorstehende Privatisierung der
       Trinkwasserversorgung in der Region Madrid und deren Folgen sind die
       Diskussionsthemen. Es wird nachgehakt, offen diskutiert, widersprochen.
       „Den Menschen die Politik zurückgeben“, nennen sie das.
       
       Niemand fragt danach, woher jemand kommt. Ob er zuvor die sozialistische
       Partei gewählt hat, die postkommunistische Vereinigte Linke, Grün oder gar
       die regierenden Konservativen. Die hier im Kreis sitzen, verbindet nur
       eines. Der Wunsch nach einem tiefgreifenden Wechsel, dem Ende der
       Sozialkürzungen und dem Ende der Korruption. Sie sind „enttäuscht, empört
       und doch voller Hoffnung“, wie de Lara erklärt.
       
       „Betty“ hat eine Reihe von Aktionen angedacht: ein Meeting auf dem Platz im
       Stadtteil, Informationstische … „Wir müssen die Begeisterung auf die Straße
       tragen“, sagt de Lara. Allzu lange habe sich Podemos mit sich selbst, mit
       dem Aufbau der internen Strukturen beschäftigt. Jetzt müsse es um
       „Sichtbarkeit“, um den Kontakt „mit unseren Leuten“ gehen. Alle hören zu,
       keiner hat Einsprüche.
       
       Noch während de Lara redet, tragen sie sich für die notwendigen Aufgaben
       ein. Sie sind hier, um etwas zu tun. „Die historische Chance zu nutzen, um
       Spanien zu verändern“, wie de Lara das definiert. 2015 ist ein
       Superwahljahr. Im Mai werden Gemeinderäte und Regionalparlamente gewählt,
       im Herbst die Regierung der Nation. Alle kennen nur ein Ziel: „Den Überfall
       auf den Himmel“, ein Zitat von Parteichef Pablo Iglesias. Der Himmel –
       davon sind sie überzeugt – ist zum Greifen nah.
       
       16 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reiner Wandler
       
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