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       # taz.de -- „Hartz-IV-Rebellin“ Inge Hannemann: „Ich gehe nie unter“
       
       > Sie kritisierte das Hartz-IV-System – und kämpft weiter. Am Montag
       > entscheidet ein Arbeitsgericht, ob Inge Hannemanns Versetzung zulässig
       > war.
       
   IMG Bild: Will sich nicht mundtot machen lassen: Inge Hannemann vor dem Eingang der Jugendberufsagentur in Hamburg
       
       HAMBURG taz | Als Inge Hannemann noch beim Hamburger Jobcenter
       team.arbeit.hamburg arbeitete, bot sie einen Kurs für ihre Kollegen an:
       Deeskalierende Kommunikation sollten sie lernen, aber es hieß, dass die
       Kunden die Aggressiven seien, und nur eine Kollegin wollte teilnehmen. Der
       Kurs fiel aus. Wenn man Inge Hannemann fragt, ob die Kolleginnen sich
       vielleicht daran gestört haben, dass eine von ihnen plötzlich besser wissen
       sollte, wie man mit den Kunden spricht, dann sagt sie: „Das Problem war
       eher, dass ich mehr tat, als nötig war.“ Und vielleicht ist das die
       interessanteste Frage beim Nachdenken über Inge Hannemann: die Frage nach
       dem, was nötig ist.
       
       Am Montag entscheidet das Hamburger Arbeitsgericht über ihre Versetzung vom
       Jobcenter ins Integrationsamt. Sie wird verlieren, da ist sie sich sicher,
       und zwar gleich doppelt. Das Gericht wird zugunsten der Arbeitsbehörde
       entscheiden, das ist das eine; aber bitterer findet Hannemann, dass dann
       erst einmal nicht darüber verhandelt werden wird, ob sie überhaupt vom
       Dienst im Jobcenter suspendiert werden durfte. Damit, so sagt Hannemann,
       wollte man sie mundtot machen als Kritikerin des Hartz-IV-Systems.
       
       Sie ist in sehr kurzer Zeit sehr bekannt geworden, die Zeitungen nennen sie
       „Hartz-IV-Rebellin“, RTL, NDR und ZDF berichteten über sie, und die Linke
       hat sie adoptiert als Kronzeugin einer Bürokratie, die nur noch Zahlen
       verwaltet, statt Menschen zu helfen. Dabei sagt Inge Hannemann gar nichts
       Neues, das erklärt sie selbst mit entwaffnender Offenheit. „Aber es scheint
       mehr Gewicht zu haben“, und das tut es, weil sie nicht eine vom System
       Betroffene, sondern lange Teil dieses Systems war.
       
       Wie stellt man sich Whistleblower vor, Menschen, die Missstände aus ihrem
       Umfeld an die Öffentlichkeit bringen? Laut? Energisch? Von der eigenen
       Bedeutung erfüllt? Inge Hannemann ist eine schmale, drahtige Person und
       dezent, aber sorgfältig geschminkt. Sie spricht schnell und viel und
       gleichzeitig ein wenig distanziert – manches hat sie inzwischen schon oft
       erzählt. Aber sie ist freundlich dabei, selbst wenn sie zwischendrin auf
       ihren Laptop guckt, wo in zwei Stunden 49 E-Mails auflaufen, oder einen der
       vielen Anrufe annimmt.
       
       ## Ein Stapel Grundgesetze
       
       Sie hat kein Problem damit, dass Journalisten in ihre helle Wohnung in
       einem Altonaer Hochhaus kommen, wo ein Schwein aus Krombacher Porzellan auf
       der Kommode steht und im Regal ein Stapel Grundgesetze; eines gibt sie
       einem mit „Man kann ja immer welche nachbestellen“. Sie ist inzwischen
       Presseprofi, professionell auch im Anwerben von Prominenten als
       Unterstützer, Heiner Geißler hat sie auf einer Demo angesprochen, Sahra
       Wagenknecht über deren Exmann kontaktiert, und sie verbirgt die Freude über
       diese Prominenz an ihrer Seite nicht.
       
       Auf ihrer Internetseite dagegen ist ihr der Ton der Kommentatoren
       untereinander irgendwann zu grob geworden. „Ich will das nicht“, hat sie
       geschrieben, „das gemeinsame Ziel sollte und muss es sein, auf die
       Missstände rund um Hartz IV aufmerksam zu machen.“ Die Missstände: Das
       bedeutet für sie, und da wird Inge Hannemann grundsätzlich, eine
       Bürokratie, die voller Misstrauen gegen ihre Kunden ist, ein System, das
       schnell mit Sanktionen bei der Hand ist, statt zu überlegen, wie man den
       Leuten langfristig zu einem Arbeitsplatz verhilft, der sie auch ernähren
       kann.
       
       Inge Hannemann war acht Jahre lang Teil dieses Systems. 2005 hat sie bei
       der Arge in Freiburg begonnen, ein Jahr später ging sie nach Hamburg zu
       einem freien Träger und vermittelte dort Schwerbehinderte, die als
       schwierige Klientel galten. Danach kam sie ins Jobcenter-Team in
       Hamburg-Altona. Zu diesem Zeitpunkt, so sagt sie, hatte sie schon eine
       Weile das Gefühl, dass sich die Dinge in die falsche Richtung bewegten.
       
       ## Eine gewisse Sanktionsquote
       
       Seit 2007, so ihr Eindruck, gab es immer mehr interne Weisungen; immer
       wieder war darin von zumutbarer Arbeit die Rede, von Zeitarbeitsstellen,
       die besser als gar keine Arbeit seien, von Sanktionen. Dabei hieß es nie,
       dass eine gewisse Sanktionsquote zu erfüllen sei, es funktionierte
       diskreter, sagt Inge Hannemann, es hieß: Wenn Termine nicht wahrgenommen
       würden, müsse man im Interesse des Steuerzahlers darauf achten, Leistungen
       zu kürzen.
       
       Inge Hannemann hat so gut wie nie jemanden zu den Maßnahmen geschickt, die
       sie für sinnlos hielt, sie hat kaum jemanden in Zeitarbeitsstellen
       vermittelt. Sie fand es wichtiger, dass die Leute einen Ausbildungsplatz
       bekamen. Dass sie anders arbeitete als ihre Kollegen, sei kein Problem
       gewesen, ihre Beurteilungen seien immer gut ausgefallen. „Aber ich stelle
       den Menschen vor das Gesetz“, sagt Inge Hannemann, „das verstehen nicht
       alle meine Kollegen“, und man fragt sich, ob sie dabei an Antigone denkt.
       
       Es macht leicht einsam, wenn man einen anderen Begriff von Gerechtigkeit
       hat als alle anderen um einen herum, gelegentlich auch selbstgerecht. Inge
       Hannemann ist aus der Reihe getreten, aber es scheint, als blicke sie ohne
       Arroganz zurück, sonst müsste sie der Vorwurf der Bundesagentur für Arbeit
       nicht so treffen. Die hat in einer bemerkenswert emotionalen Stellungnahme
       geschrieben, man äußere sich „zum Schutz der vielen tausend
       Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die durch die Äußerungen von Frau
       Hannemann beleidigt, herabgewürdigt und in Gefahr gebracht werden“.
       Hannemann gefalle sich „in der Rolle der Märtyrerin“, die von ihrem
       Arbeitgeber „ ’kaltgestellt‘ “ werden würde. Das stimme nicht, sagt Inge
       Hannemann. „In den Medien sage ich, dass ich viele nette Kollegen habe –
       aber das schneiden sie heraus.“
       
       Sie sprach mit den Kollegen über ihr Unbehagen. Die Hälfte etwa habe es
       geteilt, passiert sei jedoch nichts. Irgendwann funktionierte der Staat
       Hannemann im Staat Jobcenter nicht mehr, sie merkte, dass sie „in einen
       Strudel reingezogen wurde“, dass sie begann, den Respekt vor den
       Erwerbslosen zu verlieren. Sie schreibt Briefe, an die Bundesagentur für
       Arbeit, an Ursula von der Leyen. „Sie hat nicht geantwortet“, sagt sie, und
       man weiß nicht, ob man die Enttäuschung, die mitschwingt, für naiv halten
       soll oder ob es genau das ist, was einen selbst von den Antigones dieser
       Welt unterscheidet.
       
       ## Ein harmloses Blog
       
       Seit 2011 [1][betreibt sie ein Blog], das harmlos begonnen hat mit Sport-
       und Pädagogikthemen, aber dann kommt ihr der Gedanke, dass sie es auch
       anders nutzen könnte: dass sie sich abreagieren kann, wenn sie aufschreibt,
       was niemand hören will. „Dann muss man mich lesen“, sagt sie. Und so trägt
       sie ihre Kritik in die Welt, erst nehmen das Erwerbsloseninitiativen wahr,
       dann die Medien, dann auch ihr Arbeitgeber.
       
       Das ist die eine, die heroische Seite. Die andere, pragmatischere – und das
       ist das Bemerkenswerte an Inge Hannemann – erzählt sie genauso freimütig.
       An deren Beginn steht schlicht Langeweile. 2006 hat sie diese noch damit
       bekämpft, weil ihr die Teamleitung das Controlling über einige Standorte
       übertragen hatte; Inge Hannemann erhob die Zahl der Vermittlungen und
       Sanktionen pro Jobcenter. „Es war eine Herausforderung fürs Denken“, sagt
       sie, „und ich hatte endlich mal Einblick.“ Sind es nicht genau diese
       Quoten, gegen die sie jetzt zu Felde zieht? „Ich habe die Teamleitung
       unterstützt, sie hat mir das gegeben.“ 2010 scheidet sie wegen Burn-out für
       ein Jahr aus dem Dienst aus. Weil sie nach einer Krebserkrankung zu schnell
       wieder an die Arbeit gegangen sei. Danach fragt sie sich: Wofür setze ich
       mich eigentlich noch ein?
       
       Inge Hannemann hat Erfahrung mit Kündigungen. Sie hat einmal als Leiterin
       der Exportabteilung einer Firma in der Schweiz gearbeitet. Sie verdiente
       gut, nicht aber die Kassiererinnen. Als sie mit einem Kollegen einen
       Betriebsrat gründete, kündigte man ihr. Inge Hannemann war alleinerziehende
       Mutter, aber die Kündigung beunruhigte sie nicht. Sie zog vor Gericht und
       bekam eine Abfindung zugesprochen. „Ich gehe nie unter“, sagt sie, und man
       nimmt ihr diese Angstfreiheit ab.
       
       ## Parteilos für die Linke
       
       Die Arbeitsbehörde hat sie vorerst ins Integrationsamt für schwerbehinderte
       Menschen versetzt. Inge Hannemann hat vergeblich Einspruch dagegen
       eingelegt, sie sei nicht qualifiziert, hat sie argumentiert, und das viele
       Sitzen verschlimmere ihr Rheuma. Die Kollegen sind freundlich, aber
       Hannemann sagt, sie habe von der verlangten Buchhaltung keine Ahnung.
       Sollte das Arbeitsgericht am Montag ihre Versetzung bestätigen, will sie
       sich in der nächsten Instanz dagegen wehren.
       
       Sie geht nicht unter, aber sie lässt Federn. Zumindest klingt sie müde,
       wenn man sie anruft vor der Verhandlung am Arbeitsgericht und fragt, wie es
       ihr geht. Sie, die immer ausgeschlossen hat, einer Partei beizutreten,
       sitzt nun als Parteilose für die Linke in der Altonaer Bezirksversammlung
       und steht auf der Landesliste. „Ein gegenseitiges Kaufen will ich nicht“,
       sagt sie, aber als Einzelperson könne sie nicht viel ausrichten und bei den
       Linken habe es Tradition, dass auch Parteilose kandidierten. „Das Echo ist
       mehrheitlich positiv.“ Nur nicht bei den „üblichen Kritikern“ aus der
       Erwerbslosenszene. Sie lese nicht mehr, was von dieser Seite im Internet
       kursiere. Was dort im Umlauf ist, reicht vom Verdacht, sie sympathisiere
       mit Rechtsextremen, bis zum Zweifel, ob sie als gut bezahlte Angestellte
       für Hartz-IV-Empfänger sprechen könne.
       
       „Ich habe sehr viel Arbeit“, sagt Inge Hannemann. „Das strengt mich
       körperlich an, aber psychisch geht es mir sehr gut.“ Im Mai erscheint ihr
       Buch „Die Hartz-IV-Diktatur“, und nach wie vor gibt es Menschen, die sie
       ehrenamtlich unterstützen; „mein Team“ sagt sie dazu. Bislang ist es ist
       ihr nicht gelungen, das System grundsätzlich zu verändern. Ihre Petition
       für die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen vermodert bei den
       Berichterstattern der Parteien, und Inge Hannemann fürchtet, dass sich nach
       den geplanten Entschärfungen für eine komplette Streichung keine Mehrheit
       mehr unter den Abgeordneten finden wird.
       
       Die Entschärfungen sind ein Erfolg, aber ein relativer, wenn man wie sie
       das ganze System als Entsolidarisierung versteht. Jetzt setzt sie wieder
       auf die Öffentlichkeit. Und ruft sofort zurück, wenn sie einen Anruf auf
       ihrem Handy bemerkt. Noch rufen die Journalisten an, zu ihrer eigenen
       Überraschung.
       
       15 Dec 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.ingehannemann.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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