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       # taz.de -- Chanukka in Berlin: „Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur“
       
       > Am Dienstag wird am Brandenburger Tor ein Chanukkaleuchter entzündet.
       > Avitall Gerstetter über das jüdische Weihnachten.
       
   IMG Bild: Chanukkaleuchter am Brandenburger Tor.
       
       Taz: Frau Gerstetter, würden Sie am Brandenburger Tor Chanukka feiern?
       
       Avitall Gerstetter: Ich finde am Brandenburger Tor die riesengroße
       Chanukkia schön, aber besser wäre, wenn ein Kantor die erste Kerze anzünden
       würde. Denn die Gebete während des Anzündens werden gesungen.
       
       Darum gehen Sie nicht? 
       
       Ich werde mit meiner Familie feiern. Das ist ja auch ein Familien Fest – so
       wie Weihnachten. Gerade der erste Abend ist besonders. Dieses Jahr feiern
       wir ganz individuell. Die Kinder bekommen Geschenke und es werden
       Pfannkuchen und Latkes gegessen. Also wir machen es sehr traditionell.
       Nein, da muss ich nicht unbedingt zum Brandenburger Tor.
       
       Braucht man eine zehn Meter hohe Chanukkia? 
       
       Man könnte es vereinfachen. Da Chanukka oft zeitgleich mit Weihnachten
       fällt, könnte man die Stadt natürlich auch mit einigen Chanukkaleuchtern
       schmücken. Und dann müsste man vielleicht nicht dieser großen Aktion am
       Brandenburger Tor einen Abend widmen. Sondern hätte wirklich länger etwas
       davon.
       
       Das käme dem Gedanken von Chanukka näher? 
       
       Chanukka ist ein achttägiges Fest. Kerzen werden angezündet, weil die Syrer
       den Juden befohlen hatte, den Götzen zu dienen. Nachdem die Makabea den
       Krieg gewonnen hatten, musste der Tempel gereinigt werden. Die Menora, also
       der siebenarmige Leuchter, ist währenddessen ausgegangen. Dann passierte
       das Wunder: Statt eines Tages hat der Leuchter acht Tage gebrannt. Seitdem
       feiern wir Chanukka und essen in Gedenken daran in Öl gebackenen Dinge wie
       Pfannkuchen. Es ist ein großes Ereignis, der Leuchter soll im Fenster
       stehen und sichtbar sein.
       
       Finden Sie, dass jüdische Kultur sichtbar in Berlin ist? 
       
       Es hat sich schon entwickelt, aber man muss auch sagen, nicht von innen
       heraus. Es hat sich nicht von hier entwickelt. Es sind viele Israelis nach
       Berlin gekommen. Dadurch sind Restaurants und Cafes entstanden.
       
       Warum kommt nichts von innen? 
       
       Die Shoah mit ihren Folgen ist ein Grund. Es braucht Zeit, um sich wieder
       auf natürliche Weise zu entwickeln. Wichtig ist, dass Wurzeln bestehen
       bleiben, sich daraus Pflanzen entwickeln, die dann zu großen Bäumen werden.
       Ein großer Teil der Gesellschaft fehlt. Selbstverständlich ist auch Kultur
       verloren gegangen.
       
       Was halten sie von Großaktionen wie „Steh auf, nie wieder Judenhass“? 
       
       Ich halte nichts von einmaligen Aktionen, weil die nicht sehr nachhaltig
       sind. Ich mache selbst langfristige Projekte, das Erinnerungsprojekt „we
       will call out your name“ zum Beispiel. Ich finde es schwierig, wenn es ein
       Gedenken für eine Stunde gibt. Ich glaube nicht, dass ich mich als
       jüdischer Mensch dahin stellen muss. Das müssen andere tun.
       
       Was hat es mit Ihrem Projekt auf sich? 
       
       2010 ist Shimon Peres im Bundestag gewesen und hat eine Rede gehalten über
       seinen Großvater. Ein Rabiner, der mit seiner Gemeinde in einer Synagoge
       verbrannt wurde. Die Rede hat mich bewegt. Er hat davon gesprochen, dass
       die Nachfahren der Täter und die der Opfer die Verantwortung für die
       Zukunft tragen, das ist das Motto meines Projekts. Ich habe mir überlegt:
       Eigentlich brauchen wir eine neue Erinnerungskultur.
       
       ## ■ Am Brandenburger Tor wird am Dienstag um 18.30 Uhr die erste Kerze am
       zehn Meter hohen Chanukkaleuchter entzündet.
       
       14 Dec 2014
       
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