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       # taz.de -- Schnee, Eis, Winter: Endlich Fahrradzeit
       
       > Die Finger sind kalt, die Straßen glatt, und da ist niemand zum
       > Überholen. Überhaupt ist da nichts – außer Glück.
       
   IMG Bild: Geht auch im Winter, sogar mit Schirm: Radeln.
       
       Es war der Winter vor vier Jahren, ein richtiger Winter. Auf den
       Fahrradwegen türmten sich die Schneeberge, so hoch und tief und mächtig,
       dass die Stadt es noch nicht geschafft hatte, sie mit ihrem Grau zu
       überziehen. Ich fuhr auf der Straße. Die Straße war geräumt, wie immer. Auf
       ihrem nächtlichen Schwarz schimmerten Salz und Eis im Licht der Laternen.
       Die Luft floss über mein Gesicht, in meine Lungen, kalt und frisch.
       
       Ich hörte das Auto erst, als es schon direkt neben mir fuhr, viel zu nah.
       Von drinnen brüllte jemand. Es klang nach: Fahrradweg. Ich erschrak kurz.
       Dann fuhr ich weiter. Wartete, dass die Stille wieder eisig würde. Aber
       vorn an der Ampel war das Auto zum Stehen gekommen. Der Fahrer beugte sich
       herüber. „Ich fahr doch sonst auch Rad“, rief er. „Aber du kannst doch
       nicht einfach auf der Straße fahren.“
       
       Doch, dachte ich. Doch. Auch wenn ich manchmal den Adrenalinschauder
       genoss, wenn auf dem Radweg ein Reifen im Matsch ins Schlingern geriet.
       Wenn es einem kurz alles wegzog. Und dann doch nicht. Nix Planing. Nix wie:
       Schnee.
       
       Ich erinnere mich nur an drei Stürze. Und einer war auf Eis. Und ich
       schlitterte lange.
       
       Doch, dachte ich, an dieser Ampel, in dieser Kälte. Doch. Die Bahn ist
       frei. Es ist Winter. Endlich. Was weißt du schon.
       
       (JOHANNES GERNERT)
       
       ***
       
       Nein, da ist überhaupt kein Glück, da ist nur Matsch oder Glatteis. Wenn
       überhaupt. Meist ist da einfach nur grausame Kälte. Klirrende. Also eine,
       die Geräusche macht. Geräusche, die einen in den Wahnsinn treiben, weil sie
       eigentlich gar nicht da sind und sich niemand nach ihnen umdreht. Manch
       einer schlägt wegen ihnen die Hände auf die Ohren. Das aber können die, die
       zu diesen Geräuschzeiten auf dem Fahrrad sitzen müssen, nur unter
       Aufbietung größter Artistik tun.
       
       „Into the wild“, denke ich jedes Mal, wenn ich bei Minusgraden auf mein
       Fahrrad steigen muss. Und das Fahrrad denkt wahrscheinlich: „?“, so wie
       Jolly Jumper es immer dann tut, wenn Lucky Luke einen fragwürdigen Weg
       einschlägt. Ich würde meinem Fahrrad und mir diese Wege gern ersparen, aber
       mein Arbeitgeber stellt für seine Angestellten weder einen Shuttle-Bus zur
       Verfügung, noch bezahlt er ihnen ein Taxi, das sie warm, sicher und
       glücklich zum Arbeitsplatz und von da in die Kneipe oder nach Hause bringen
       könnte.
       
       Bus, Bahn oder Tram sind dann, wenn es draußen wieder klirrt, natürlich
       keine Alternative. Denn auch der Selbsttransport mit öffentlichen Mitteln
       ist eine Art Wildniserfahrung. Allerdings bringt sie einen weniger vorwärts
       als in den Stillstand. Stundenlanges in Schneematschseen Herumstehen an
       Bahnsteigen und Haltestellen führt zu schlechter Laune, Eisfüßen und
       Nasenlaufen. Die Eisfüße schleppt man dann noch den ganzen Tag mit sich
       herum, und bis sie wieder einigermaßen aufgetaut sind, muss man auch schon
       wieder zurück, steht stundenlang in Matschseen und so weiter, kommt zu
       Hause oder in der Kneipe an, hat wieder Eisfüße, fühlt sich, als hätte man
       den Kilimandscharo bestiegen, obwohl es höchstens drei Bus- oder
       Bahnsteigstufen waren.
       
       Also tue ich so, als sei mein Fahrrad ein Apfelschimmel, der auf einer
       Blume kaut, pfeife ein bescheuertes, unvollendetes Lied von Einsamkeit und
       Cowboytum und freue mich auf das Ende des Winters, wenn ich wieder selig in
       den Sonnenuntergang fahren kann.
       
       (DORIS AKRAP)
       
       ***
       
       Der Schlüssel passt nicht. Geht nicht rein. Ein bisschen ruckeln, ein
       bisschen mehr, dann ist er drin. Und lässt sich nicht drehen. Wieder
       ruckeln. Jeden Morgen wieder, die Finger schmerzen schon von der Kälte, die
       Haut rot und rissig, dann schnappt das Schloss doch auf. Schnell Handschuhe
       drüber. Und raus. Kaum auf die Straße getreten, will man wieder umdrehen,
       zwei Pullis wären besser gewesen. Egal jetzt, los, wieso gibt es eigentlich
       keine Sitzheizung für den Sattel? Weitertreten.
       
       Was sonst? Sich in die U-Bahn quetschen, in den Bus, zu all den anderen
       Michelin-Männchen mit ihren Michelin-Männchen-Jacken? In einer
       Sardinenbüchse wäre mehr Platz. Sardinen sind schlanker. Und ja, auch im
       Winter schwitzen Menschen und riechen, im überheizten Nahverkehr. Die
       Saison-Radler, die schon vor Wochen ihr pastellfarbenes Hollandrad – der
       Frühling kommt ja wieder – in den Keller entsorgt haben, um sich, mit
       Monatskarten ausgestattet, in Waggons reinzuschieben. Nie wieder
       mitschieben – und vor allem: nie wieder mitgeschoben werden.
       
       Weitertreten. Die Straße: leer. Klar. Zumindest der rechte Streifen, der
       Meter, auf den es ankommt. Der Frost kneift in die Wangen, die Mütze
       kratzt, die Nase läuft auch ohne Schnupfen. Bloß keine rote Ampel jetzt.
       Stehen bleiben heißt noch mehr frieren. Treten, treten. Fast zu schnell ist
       man da. Das Schloss ploppt auf und zu. Die Wangen ganz rot, die Haut
       kribbelt warm, als wäre man gerade in der Sauna gewesen. Das Büro: leer.
       Dann Frühstück, Kaffee. Auf die Michelin-Männchen warten.
       
       (EMILIA SMECHOWSKI)
       
       ***
       
       Das Fahrrad stand eines Tages vor der Tür, nicht angeschlossen, nicht
       abgeschlossen, matt-schwarz, mit elegantem Schwung, ausladendem Lenker, das
       hintere Schutzblech zur Hälfte weiß lackiert. Marke Union, eine echte
       Holländerin. Der Fahrradmonteur, de fietsenmaker, der es nur ein wenig
       aufarbeiten musste, ist mit einem ähnlichen Modell mal vom tiefsten
       Norddeutschland bis nach Paris gefahren, in seinem Laden hängt ein Foto
       davon. Er auf dem Fahrrad, den Eiffelturm betrachtend. Ein knurriger Typ
       von wenigen Worten mit ölverschmierten Händen. „Das ist so n Lieblingsrad“,
       sagte er, 15 Euro wollte er haben für Licht, neuen Bremsbelag, ein paar
       Schrauben.
       
       Das Fahrrad ist im täglichen Einsatz, typologisch eine Art Wohnzimmersofa,
       man kann darauf nicht sportlich sitzen. Zwar gab es den neuen Bremsbelag,
       aber die Stempelbremse hat kaum Wirkung, die Rücktrittbremse ist schwach,
       es hat nur den einen Gang, der ihm von Natur aus gegeben ist. Ein Fixie, so
       in der Art. Gezwungenermaßen.
       
       Aber ich nehme es an. Fixiefahrer sind Kampfradler. Ich bin Kampfradler,
       perfekt getarnt. Im schicken Winterzwirn – sommers entsprechend anders –,
       mit dem Sofarad auf den Straßen Berlins unterwegs.
       
       Na gut, andere würden sagen: Kampfradler im Möchtegernstatus, bedingt
       einsatzbereit. Das sind die, die mich morgens überholen. Weil ich mit
       meinem Single Speed der langsamste Kampfradler der Welt bin. Ich versuche,
       das Gewicht meines Stahlrahmens, die Schwergängigkeit des einen Gangs, die
       eher unsportliche Sitzposition wettzumachen, indem ich mich vor roten
       Ampeln an die Spitze des Feldes rollen lasse. Sie ziehen wenig später an
       mir vorbei, stirnrunzelnd, mindestens. Fluchend, manche. Weil ich mal kurz
       im Weg war.
       
       Ich lasse sie, sehr zurückgelehnt, passieren. Und habe dann die Straßen
       wieder für mich. Jetzt erst recht, in diesen kalten Zeiten. Sie fahren Bus,
       ich hoffe auf Tiefschnee, da spielt mein Union die Stärke aus, die
       schmalreifige Schnellfahrer nicht haben: breite Schlappen, beste
       Straßenlage.
       
       (FELIX ZIMMERMANN)
       
       14 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR J. Gernert
   DIR D. Akrap
   DIR E. Smechowski
   DIR F. Zimmermann
       
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