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       # taz.de -- Die Wahrheit: Zwei Komma vier Kilo des Grauens
       
       > Auf dem Land ist die Wahl des Grünkohlkönigs das Ereignis des Winters.
       > Und es kann Schreckliches passieren, wenn man hineingerät ...
       
       Das ländliche Jahr neigt sich dem Ende zu. Die Weihnachtsmärkte toben über
       uns hinweg. Dekorationsartikelhändler lauern darauf, dass ich in diesem
       Jahr endlich meinen Widerstand aufgebe. Ich will aber keine rostigen
       Kerzenhalter, die aussehen wie Industrieschrott, und auch keine Gestecke
       aus amorphem Grünzeug mit zu viel Silberpuder und Gedöns dran. Für
       geschnitzte Weihnachtsbäume, die aussehen wie Rückenkratzer, bin ich keine
       lohnende Zielgruppe. Mir genügen die Schutzengel, die mein Sohn vor vielen
       Jahren gezwungenermaßen im Kindergarten basteln musste. Der eine guckt
       total schlecht gelaunt, und der andere grinst bekifft. Damit komme ich gut
       durch den Dezember.
       
       Leider aber nicht, ohne noch einmal schockiert zu werden – in all den
       ländlichen Jahren bisher hatte ich die Wahl des Grünkohlkönigs der
       Freiwilligen Feuerwehr verpasst. Auch diesmal geriet ich nur als Zaungast
       in die Veranstaltung, und was meine Freunde und ich eigentlich in der
       Dorfgaststätte wollten, verrate ich hier auf gar keinen Fall.
       
       Also, der Grünkohlkönig. Man trifft sich zum Grünkohlessen. Grünkohl satt.
       Was wir stattdessen planten, werde ich übrigens niemals gestehen, aber
       Grünkohl haben wir jedenfalls auch gegessen, und er war so deftig gekocht,
       wie auf dem Lande üblich. Grünkohlsatt kann ein sehr schnell erreichter
       Zustand sein.
       
       Während wir schon nach je einem Tellerchen erschöpft im Nebenraum der
       Gaststätte zusammensackten, schaufelte die Feuerwehr fröhlich im Saal
       amorphes Grünzeug, Kartoffeln und fettes Schweinefleisch in sich hinein.
       „Er fraß um sich“, heißt es irgendwo bei Arno Schmidt. Sie fraßen um sich;
       na ja, wenn man schon zehn Euro investiert, will man davon auch so viel wie
       möglich wieder mit nach Hause nehmen. Dazu gab es, nicht weiter
       verwunderlich, reichlich Bier und Schnaps.
       
       ## Öffentliches Wiegen nach dem Essen
       
       Blass wurden wir Nichteingeweihten erst, als wir erfuhren, wie der
       Grünkohlkönig bestimmt wird: Ausnahmsweise muss man dafür nämlich nicht
       schießen (Schützenkönig oder Schweinekönig), nicht tanzen (Discokönig),
       nicht trinken (Schnapskönig) und sich nicht wählen lassen (Dorfkönig
       beziehungsweise Bürgermeister). Man muss nur so viel essen, wie in einen
       reinpasst. Und damit nicht geschummelt werden kann, muss man sich vor und
       nach dem Essen öffentlich wiegen lassen.
       
       Es wunderte mich nicht, dass die Frauen zwar am Essen, aber nicht am
       Wettbewerb teilnahmen. Sie leben vielleicht auf dem Lande, aber nicht
       hinterm Mond, und wissen, dass die öffentliche Bekanntgabe des
       Lebendgewichts dem gesellschaftlichen Selbstmord in jeder Damenrunde
       gleichkommt. Die Männer kannten da freilich kein Pardon, sie waren stolz
       auf jedes Gramm ihrer tannenbaumkugelförmigen Plauzen.
       
       Für die Königswürde genügte dem Sieger dann ein Zuwachs von 2,4 Kilo in
       anderthalb Stunden. Wer sich danach zum Kotzkönig machte, haben wir leider
       nicht mehr mitgekriegt. Wir mussten ja im, äh, Nebenraum, äh, feststellen,
       wer in diesem Jahr, äh, Kegelkönig wird.
       
       10 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Fischer
       
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