URI: 
       # taz.de -- Essay zum Amtsjubiläum: 100 Jahre Erdogan
       
       > Vor hundert Tagen trat Erdogan das Amt des türkischen Staatspräsidenten
       > an. Er redet wirrer und hat einen „bad cop“ an der Seite.
       
   IMG Bild: Neue Kleiderordnung: Recep Tayyip Erdogan bei der Stimmabgabe. Ankara, Präsidentschaftswahl, 10. August 2014
       
       Seit hundert Tagen ist Recep Tayyip Erdoğan nun Staatspräsident der Türkei.
       Gemäß einer – na sicher – amerikanischen Tradition ist das Zeit für eine
       erste Bilanz: Ist der Mann, der als Regierungschef immer autoritärere Züge
       gezeigt hatte, moderater, gar versöhnlicher geworden? Und hält er sich aus
       dem, was man so schön „Tagespolitik“ nennt, heraus? Schließlich hat der
       Staatspräsident in der Türkei verfassungsgemäß ähnliche Aufgaben wie der
       Bundespräsident: Er darf Gesetze blockieren, ansonsten aber soll er
       repräsentieren.
       
       Nun, dass Erdoğan bloß den Grüßaugust abgeben würde, war nicht zu erwarten.
       „Auch diejenigen, die mich nicht gewählt haben, haben heute gewonnen“,
       sagte er bei seiner [1][Balkonrede am Wahlabend] Mitte August und kündigte
       an, er werde künftig mit seinen Gegnern zusammenarbeiten. Eigentlich sind
       das bloß die bei solchen Anlässen üblichen Phrasen, die aber nur deshalb
       aufhorchen ließen, weil man von ihm ganz anderes kannte.
       
       Die wilden Drohungen etwa, die er am Abend der Kommunalwahl Ende März an
       die [2][Adresse seiner Gegner verschickt hatte], als klar geworden war,
       dass er trotz des Gezi-Aufstands und der Korruptionsermittlungen weiterhin
       eine (knappe) Mehrheit der Wähler hinter sich wissen konnte.
       
       ## Science-Fiction-Fantasien
       
       Mindestens so verstörend war sein Auftritt Mitte Mai in Soma, wo bei einem
       Grubenunglück 301 Bergarbeiter gestorben waren. Solche Dinge würden nun mal
       passieren, sagte er und zählte Grubenunglücke aus dem Europa des 19.
       Jahrhunderts auf, während einer seiner [3][Berater auf Demonstranten
       einprügelte].
       
       Nach dem [4][Grubenunglück von Ermenek] Anfang November, bei dem 18
       Menschen starben, sprach Erdoğan davon, man müsse in den Bergwerken auf
       Roboter umstellen – ein wahrlich großer Sprung innerhalb kürzester Zeit vom
       England des 19. Jahrhunderts zu Science-Fiction-Ideen von
       vollautomatisierten Bergwerken. Man kann dies als moderateres Auftreten
       werten. Oder als Ausdruck eines immer mehr entrückten Geisteszustands
       dieses Mannes. Wahrscheinlich war es beides auf einmal.
       
       Immerhin verschob er die für den Tag des Unglücks [5][geplante Einweihung
       seines neuen Protzpalastes], was schon als Empathie gedeutet wurde. Die
       Ansprüche sind eben niedrig. Dabei haben Vorfälle wie die in Soma und
       Ermenek System; mit 1.235 tödlichen Arbeitsunfällen im vorigen Jahr belegt
       die Türkei in Europa einen einsamen Spitzenplatz. Fast schon zwingende
       Folge des Programms, dem sich die AKP verschrieben hat: entfesselter
       Kapitalismus plus Islam.
       
       An anderer Stelle, bei den [6][Solidaritätsdemonstrationen für das
       bedrängte Kobani], witterte er wie gehabt „dunkle Mächte“ am Werk und
       meinte mehrfach, der „Islamische Staat“ sei genauso terroristisch wie die
       kurdische PKK – ein Auftreten, das den im vorigen Jahr begonnen
       Friedensprozess mit der PKK fast zum Ende gebracht hätte.
       
       ## Der quäkende Medwedjew
       
       Dabei ist für diese Fragen sein Nachfolger Ahmet Davutoğlu zuständig. Der
       Politikprofessor gilt als Mastermind der [7][neo-osmanischen Außenpolitik],
       der sich die AKP-Regierung seit einigen Jahren verschrieben hat, also der
       Abwendung von der westlichen Welt und den Träumen von der
       Wiederauferstehung der türkisch-islamischen Regionalmacht. Auch die
       türkische Syrien-Politik war eine Folge dieser Träumereien, samt der
       verdeckten Unterstützung für die Dschihadisten. Noch im August
       verniedlichte Davutoğlu den „Islamischen Staat“ als Organisation, die zwar
       „radikal und terrorisierend“ erscheine, die aber „eine Reaktion“ sei. Nur
       eines war Davutoğlu nie: ein Beißer. Darin versucht er sich im neuen Amt.
       
       Und das ist wohl auch die wichtigste Veränderung der vergangenen Wochen: Im
       türkischen Fernsehen sieht man nun nicht nur Erdoğan, wie er über die
       [8][Ungleichheit von Mann und Frau, die Entdeckung Amerikas] oder den sich
       über tote muslimische Kinder freuenden Westen sinniert , hinzu kommt
       Davutoğlu, der sich mit Dauergrinsem und quäkender Stimme als politischer
       Führer zu inszenieren versucht.
       
       Die alte Rollenverteilung zwischen Erdoğan und dem früheren Staatspräsident
       Abdullah Gül ist passé; statt gutem Bullen und schlechtem Bullen gibt es
       nur noch zwei schlechte Bullen mit ungleicher Überzeugungskraft. Und mit
       ungleichen Kompetenzen: Jeder weiß, wer hier der Putin und wer bloß der
       Medwedjew ist.
       
       Apropos Putin: Von dem hat sich Erdoğan nicht nur die Idee mit dem
       Hilfsministerpräsidenten abgeschaut. Auch sonst ähneln sich beide darin,
       unter der formalen Beibehaltung der Demokratie an der Etablierung einer
       De-facto-Alleinherrschaft zu arbeiten. Bislang standen gegensätzliche
       Interessen in Syrien oder auf der Krim einer engeren politischen
       Zusammenarbeit im Weg.
       
       [9][Aber auf dem Treffen vergangene Woche] hat man beschlossen, künftig
       enger zusammenzurücken. Und natürlich verkündete Putin den Verzicht auf den
       Bau der South-Stream-Leitung nach seiner Zusammenkunft mit Erdoğan und
       nicht etwa nach dem Treffen mit Davutoğlu. Vielleicht entsteht da eine neue
       Allianz, Brüder im Geiste sind sie allemal.
       
       ## Die „neue Türkei“
       
       Seit Jahren gibt Erdoğan für seine Amtszeit eine Jahreszahl an: 2023, den
       hundertsten Geburtstag der Republik, bis zu dem er seine „neue Türkei“
       aufgebaut haben will: wirtschaftlich stark, politisch einflussreich und
       islamisch bis in die Bartspitzen.
       
       Auf diesem Weg hat Erdoğan gegen Widerstände zu kämpfen, kann aber beinahe
       täglich Erfolgsmeldungen verbuchen. So wurde am Donnerstag bekannt, dass
       die Zahl der Schüler an religiösen Schulen in der Amtszeit der AKP [10][um
       das Sechsfache auf eine knappe halbe Million gestiegen ist]. Und darum geht
       es Erdoğan letztlich: die Gesellschaft so umzukrempeln, dass Staatsgründer
       Atatürk in Vergessenheit gerät, man dafür aber noch in hundert Jahren einen
       anderen als Staatsgründer feiern wird: Recep Tayyip Erdoğan.
       
       5 Dec 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!72327/
   DIR [2] /!135849/
   DIR [3] /!138493/
   DIR [4] /!148534/
   DIR [5] /!148548/
   DIR [6] /!147370/
   DIR [7] /!140405/
   DIR [8] /!150592/
   DIR [9] /!150561/
   DIR [10] /!150684/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Islamismus
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Präsidentschaftswahl
   DIR Wladimir Putin
   DIR Kemal Atatürk
   DIR Gewerkschaft
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Abdullah Öcalan
   DIR Kurden
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Russland
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Schwerpunkt Syrien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 1. Mai in der Türkei: Der Taksim bleibt gespenstisch ruhig
       
       Die Polizei löst eine Gewerkschaftsdemonstration mit Wasserwerfen und
       Tränengas auf. In den übrigen Großstädten blieb es friedlich.
       
   DIR Nach dem Grubenunglück in der Türkei: Den Zechen-Chefs droht lebenslang
       
       Es war das verheerendste Grubenunglück in der Geschichte der Türkei. Nun
       soll ein Prozess die Katastrophe von Soma aufklären. 45 Angeklagte stehen
       vor Gericht.
       
   DIR Kolumne Besser: Frieden mit Tayyipistan?
       
       Wenn es so weitergeht, wird das Verbot der kurdischen Arbeiterpartei PKK in
       der Türkei noch eher aufgehoben als in Deutschland.
       
   DIR Kampf um Kobani: Der unmögliche Sieg
       
       Die Kurden stehen auf dem Dach und blicken nach Kobani. Sie hoffen, einen
       historischen Moment zu erleben. Doch da sind noch die US-Amerikaner.
       
   DIR Kommentar Rückeroberung von Kobani: Ein wichtiger Sieg für die Kurden
       
       Die Kurden haben einen Teil von Kobani zurückerobert. Ein Erfolg, der sich
       bereits an anderen Fronten des Krieges bezahlt macht.
       
   DIR Konflikt um türkische Schulen: Korankonforme Geografie
       
       Immer mehr türkische Gymnasien werden in muslimische Paukschulen
       umgewandelt. Dort wird Präsident Erdogans „neue religiöse Generation“
       erzogen.
       
   DIR Debatte Russland und die Türkei: Es geht nicht nur ums Gas
       
       Putin und Erdogan bilden eine neue geopolitische Achse gegen Europa. An
       dieser Opposition ist auch die westliche Arroganz schuld.
       
   DIR Islamisierung in der Türkei: Generation Erdogan
       
       In der AKP-Regierungszeit ist die Zahl der Schüler an religiösen Schulen
       deutlich gestiegen. Bald könnte Reli ab der 1. Klasse zum Pflichtfach
       werden.
       
   DIR Türkische Großmannssucht: Erdogan sucht den Super-Muslim
       
       Kein Tag vergeht, an dem der Präsident nicht irgendeinen Blödsinn erzählt.
       Doch neu ist nicht der Größenwahn, sondern der Rückgriff auf den Islam.
       
   DIR Kommentar South-Stream-Leitung: Allianz der Beleidigten
       
       Die South-Stream-Leitung wurde gestoppt. Die engere Zusammenarbeit zwischen
       Russland und der Türkei fängt dagegen gerade erst an.
       
   DIR Erdogan und die Frauen: Der bekümmerte Bruder
       
       Frauen und Männer kann man nicht gleichstellen, sagt Ministerpräsident
       Erdogan. Er will Türkinnen die Teilnahme am öffentlichen Leben erschweren.
       
   DIR Kolumne Besser: Der kranke Mann von Ankara
       
       Egal ob Erdogan aus Kalkül handelt oder nur einen Sprung in der Schüssel
       hat – mit einem, der nicht zuhören will, ist ein Gespräch schwierig.