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       # taz.de -- NSU-Prozess in München: Unter braun-schwarzer Perücke
       
       > V-Mann „Piatto“ bestreitet, das Trio um Beate Zschäpe gekannt zu haben.
       > Er liefert aber Details über das Neonazi-Netzwerk „Blood & Honour“.
       
   IMG Bild: Verhüllt vorm Verhandlungssaal: Spitzel „Piatto“
       
       MÜNCHEN taz | Es ist einer dieser Tage im NSU-Prozess, den die Angehörigen
       der Opfer und ihre Anwälte auch nach anderthalb Jahren Verfahrensdauer noch
       mit Spannung erwarten – und an dem sie auf neue Erkenntnisse hoffen. Es ist
       der 167. Verhandlungstag gegen Beate Zschäpe und die vier weiteren
       Angeklagten, als um kurz nach 10 Richter Manfred Götzl den Zeugen Carsten
       Sz. aufruft.
       
       Ein dicker Mann in schwarzer Kapuzenjacke betritt den Saal A 101 des
       Münchner Oberlandesgerichts, auf dem Kopf trägt er eine braun-schwarze
       Perücke, auf der Nase eine große dunkle Brille, das Kinn ist voller
       Bartstoppeln. Ins Gesicht hat Sz. ein Tuch gezogen, das er herunterzieht,
       als er sich setzt. Vom Zuschauerraum kann man ihn jetzt nur von hinten
       sehen. Neben ihm nimmt seine Rechtsanwältin Platz.
       
       Niemand soll Carsten Sz., 44, erkennen können – den verurteilten
       Gewalttäter und ehemaligen Neonazi, der jahrelang die Szene für den
       Brandenburger Verfassungsschutz bespitzelte. Jetzt ist er im
       Zeugenschutzprogramm des Landes Brandenburg. Die Fragen, die Götzl zur
       Person stellt, sind entsprechend karg. Als Sz.s Adresse wird das
       Brandenburger Innenministerium angegeben. Auf die Frage nach der
       beruflichen Tätigkeit verzichtet der Richter ganz.
       
       „Es geht uns um Erkenntnisse über Kontakte zu Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos
       und Frau Zschäpe und der Organisation ’Blood & Honour‘ Sektion Sachsen“,
       sagt Götzl zu Sz. „Besonders im Zeitraum 1998/99.“ Damals war das
       Terrortrio untergetaucht. Vieles deutet darauf hin, dass es von „Blood &
       Honour“-Mitgliedern unterstützt wurde. Was der These widerspricht,
       Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hätten isoliert gehandelt.
       
       Carsten Sz. soll im Zusammenhang erzählen, sagt Götzl. „Die drei Personen
       sind mir persönlich nicht bekannt, auch die Angeklagte nicht“, antwortet
       Carsten Sz. „Das alles ist zeitlich sehr lange her. Ich habe dem
       Verfassungsschutz damals Informationen geliefert.“ Über „Blood & Honour“
       Sachsen seien das sehr viele Informationen gewesen. „Im Einzelnen erinnere
       ich mich nicht mehr.“
       
       ## Eine „Topquelle“
       
       Er sei von 1991 bis 2000 V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutzes
       gewesen, sagt Carsten Sz. Sein Deckname: „Piatto“. Sz. war das, was
       Verfassungsschützer eine „Topquelle“ nennen. „Piattos“ Angaben hätten im
       Wissen des Brandenburger Verfassungschutzes über die Neonaziszene zu einem
       „Quantensprung“ geführt, hatte sein ehemaliger V-Mann-Führer im
       NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags gesagt.
       
       In der Regel einmal wöchentlich, sagt Sz. nun, habe er sich mit seinem
       V-Mann-Führer getroffen, Gedankenprotokolle, Tonträger, Magazine und
       anderes Material übergeben. Im Juni 2000 wurde Sz. enttarnt. Seitdem ist er
       im Zeugenschutzprogramm, lebt mit neuer Identität an einem unbekannten Ort.
       
       Das alles sei lange her, sagt Sz. immer wieder. Dass er sich nicht
       erinnere, dass es für ihn „ein komplett anderes Leben“ sei. Er betont
       seinen Ausstieg, den Bruch mit der rechtsextremen Szene. Aber dann sagt er,
       wer damals bei der sächsischen „Blood & Honour“-Gruppe zum „Stamm“ gehörte:
       Jan W., Thomas S. und die Eheleute P. Diese tauchen im NSU-Prozess immer
       wieder auf. Vor Gericht spielten sie als Zeugen die Bedeutung von „Blood &
       Honour“ herunter und bestritten die eigene Mitgliedschaft.
       
       Sz. dagegen sagt, „Blood & Honour“ sei das „bestorganisierte Netzwerk“ in
       der rechtsextremen Szene gewesen: „Weit rechts außen, absolute Hardliner.
       Menschen, die nationalsozialistisch eingestellt waren und daraus auch
       keinen Hehl machten.“ Das Besorgen von Waffen sei damals in der Szene
       „tagesaktuell“ gewesen: „Jeder hat darüber gesprochen, jeder wollte sie
       haben. Die Begeisterung für Waffen war groß, die Szene hat sich darüber
       ausgelassen wie andere über Fußball.“
       
       Doch als ihm Götzl Details aus seinen V-Mann-Berichten oder frühere
       Aussagen vorhält, erinnert sich Sz. nicht. „Einen persönlichen Kontakt zu
       den drei Skinheads soll Jan W. haben“, liest Götzl aus einem Bericht vor,
       den Sz. am 9. September 1998 seinem V-Mann-Führer gemacht hatte. Mit den
       „Skinheads“ sind Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos gemeint. „Jan W. soll zur
       Zeit den Auftrag haben, die drei Skinheads mit Waffen zu versorgen. Gelder
       für diese Beschaffungsmaßnahmen soll die „Blood & Honour“-Sektion Sachsen
       bereitgestellt haben.“
       
       „Das sagt mir heute nichts mehr“, sagt Sz.
       
       Götzl liest weiter: „Vor ihrer beabsichtigten Flucht nach Südafrika soll
       das Trio einen weiteren Überfall nach dem Erhalt der Waffen planen, um mit
       dem Geld sofort Deutschland verlassen zu können. Dem weiblichen Teil des
       Trios will Antje P. ihren Pass zur Verfügung stellen.“
       
       „Daran habe ich keine Erinnerung“, sagt Sz. „Aber wenn ich das so
       mitgeteilt habe, war die Info auch so da.“
       
       Die SMS, die Jan W. an das von Carsten Sz. genutzte Handy mit der Frage „Wo
       bleibt der Bums?“ geschickt hatte, will Sz. nicht bekommen haben. Das
       Handy, das der Verfassungsschutz dem Freigänger für seine Arbeit stets gab,
       habe er bei der Rückkehr ins Gefängnis immer abgeben müssen, so Sz. Dennoch
       legt die SMS nah, dass es Gespräche zwischen W. und Sz. gegeben hatte.
       
       ## Westberliner Skinhead der ersten Stunde
       
       Carsten Sz. ist in Berlin-Neukölln geboren und aufgewachsen. Der ehemalige
       Postazubi war ein Westberliner Skinhead der ersten Stunde. Mit 19 gehörte
       er der „Nationalistischen Front“ an, zwei Jahre später baute er die „Weißen
       Ritter des Ku-Klux-Klans“ in Deutschland mit auf. Im Mai 1992 war er der
       Anführer einer Gruppe Neonazis, die in einer Diskothek in einem
       brandenburgischen Dorf über den nigerianischen Asylbewerber Steve Erenhi
       derart herfielen, dass dieser mit schwersten Kopfverletzungen nur knapp
       überlebte.
       
       Verhaftet aber wurde Carsten Sz. erst zwei Jahre später. In der
       Zwischenzeit gab er ein neues Naziheft heraus und knüpfte intensive
       Kontakte im Netzwerk „Blood & Honour“. Anfang 1995 wurde Sz. zu acht Jahren
       Haft wegen versuchten Totschlags verurteilt. Bereits Ende 1997 kommt der
       V-Mann in den offenen Vollzug.
       
       Ursprünglich wollte die Brandenburger Landesregierung „Piattos“ Aussage vor
       Gericht stark einschränken. Der ehemalige V-Mann sollte per Videoschaltung
       von einem geheimen Ort und unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen,
       zudem unkenntlich gemacht und begleitet von einem Anwalt des
       Verfassungsschutzes. Dafür wurde das Land scharf kritisiert, selbst der
       Bundesanwaltschaft war das zu viel. Schließlich erteilte das SPD-geführte
       Innenministerium doch eine Aussagegenehmigung.
       
       Sebastian Scharmer ist der Anwalt der Angehörigen des ermordeten Dortmunder
       Kioskbesitzers Mehmet Kubasik. Gemeinsam mit anderen Nebenklagevertretern
       hat er die Aussage von Carsten Sz. beantragt. Er glaubt dem ehemaligen
       V-Mann nicht. „Natürlich ist das alles lange her“, sagt Scharmer in einer
       Prozesspause. „Aber die Erinnerungslücken sind vorgetäuscht.“ Wenn von
       Waffen für ein untergetauchtes Trio die Rede sei oder von der Auflösung der
       sächsischen „Blood & Honour“-Sektion, bei der Sz. dabei gewesen sein soll –
       „das ist doch nichts Alltägliches, daran erinnert man sich doch“.
       
       Das aber, so Scharmer, sei nicht das Entscheidende an Sz.s Aussage. Wichtig
       sei, dass er klare Angaben über das „Blood & Honour“-Netzwerk gemacht habe.
       „Er hat es als bestorganisiertes neonazistisches Hardliner-Netzwerk
       charakterisiert. Waffen sind alltäglich ein Thema gewesen“, sagt Scharmer.
       „Endlich hat einer der Szenenangehörigen diese Tatsachen über das Netzwerk
       geschildert, das mit Sicherheit ein Unterstützungsnetzwerk des NSU gewesen
       ist.“
       
       3 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine am Orde
       
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