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       # taz.de -- Obdachlose in Marseille: Gelbes Dreieck für Clochards
       
       > In Marseille sollen Obdachlose einen markierten Ausweis tragen. Der
       > Bürgermeister sieht kein Problem. Dabei ist die historische Analogie
       > offensichtlich.
       
   IMG Bild: Schön ist es in Marseille. Aber hier obdachlos sein? Besser nicht
       
       PARIS taz | Auch in Marseille ist der Weg zur Hölle mit guten Absichten
       gepflastert. Im Rathaus der zweitgrößten Stadt Frankreichs hatte man sich
       den Kopf zerbrochen, wie den immer zahlreicheren auf der Straße lebenden
       Obdachlosen wirksamer geholfen werden könnte.
       
       Irgendwer kam dann auf die gloriose Idee, den Clochards, die gerade im
       Winter oft Hilfe benötigen, einen speziellen Ausweis auszustellen. Darauf
       sollen alle wichtigen Angaben stehen, die beispielsweise im Krankenhaus
       oder in einer Notunterkunft benötigt werden. Darum sollen die betroffenen
       Menschen ihre Karte für Rettungsteams gut sichtbar mit einem Band um den
       Hals oder auf dem Rucksack befestigt tragen.
       
       Gesagt, getan. In Zusammenarbeit mit der kommunalen Organisation „Samu
       social“ und deren freiwilligen Helfern wurde das Projekt rasch realisiert.
       Vielleicht etwas zu rasch? Die auf ihre Sozialpolitik äußerst stolzen
       Stadtbehörden verstehen nicht, warum ihre Initiative jetzt so viel empörte
       Kritik erntet. Ein Blick auf den bereits in mehr als 300 Exemplaren an
       Obdachlose verteilten Ausweis genügt allerdings, um zu begreifen, was da
       Anstoß erregt.
       
       Auf der Vorderseite ist ein großes gelbes Dreieck abgebildet, auf dem bei
       näherem Hinschauen noch eine Art Thermometer zu sehen ist, das einem auf
       dem Kopf stehenden Ausrufezeichen gleicht. Ein gelbes Dreieck auf der
       Brust, musste das nicht an den Präzedenzfall der Judenverfolgung erinnern?
       Das jedenfalls war die spontane Reaktion aller anderen Hilfsorganisationen,
       die nicht verstehen, dass die Stadtbehörden von Marseille nicht die
       schockierende Analogie zum gelben Davidstern erkennen, den die Juden in
       Frankreich während der Nazi-Besetzung tragen mussten.
       
       ## „Absurde Polemik“
       
       Mit einem von Weitem erkennbaren gelben Dreieck also werden die „Sans
       domicile fixe“ (SDF) auch für die Passanten sofort als Clochards erkennbar
       gemacht. Dass dies der Diskriminierung und Isolation dieser auf der Straße
       (über)lebenden Menschen nicht unbedingt entgegenwirkt, ist für die
       französische Menschenrechtsliga LDH offensichtlich. Eine Gruppe mit dem
       Namen „Jugement dernier“ („Das jüngste Gericht“) organisierte am Mittwoch
       eine Protestkundgebung gegen das schändliche Dreieck der Diskriminierung.
       
       Dieses Kollektiv erwähnt, dass auf dem umstrittenen Ausweis nicht nur der
       Name und die Sozialversicherungsnummer sowie die Blutgruppe der SDF stehen,
       sondern angeblich auch Informationen über Allergien oder chronische
       Krankheiten wie Aids oder Schizophrenie eingetragen würden. Wollen also die
       Stadtbehörden diesen Menschen am Rande der Gesellschaft wirklich helfen
       oder sie noch mehr marginalisieren, indem sie diese mit einem solchen
       Warndreieck kennzeichnen, fragt das Kollektiv.
       
       Als „problematisch“ betrachtet dies auch das in Marseille tätige Rote
       Kreuz: Dieser um den Hals getragene Ausweis werde zu einem „Etikett“, das
       man auf diese Leute klebe. Bei „Secours populaire“, einer anderen
       Hilfsorganisation, wird darauf hingewiesen, auch die Hilfsbedürftigen
       hätten ein Recht auf Anonymität.
       
       Der für die Aktion zuständige Vizebürgermeister Xavier Méry dementiert
       hingegen, dass vertrauliche medizinische Angaben vorgesehen seien. Er
       versteht ohnehin nicht, warum sich alle derart aufregen. Das sei eine
       „absurde Polemik“, meinte Xavier Méry. Offenbar fällt es dem selbst
       ernannten Gutmenschen im Rathaus von Marseille schwer, einen Fehler oder
       wenigstens seine historische Naivität einzugestehen. Jetzt fehlt nur noch
       das Argument, es sei ja ein Dreieck und kein Stern.
       
       Auch der Leiter des sozialen Notrufs „Samu social“ möchte seine
       Adventskampagne keinesfalls abbrechen. Die Ausweiskarte erlaube es nämlich,
       den Obdachlosen zu sagen: „Ich existiere, ich habe einen Namen.“ Das mag
       durchaus sein. Den anderen Mitbürgern hingegen ermöglicht das Dreieck,
       diese Menschen auf einen Blick zu identifizieren – und sie erst recht zu
       meiden.
       
       3 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
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