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       # taz.de -- Alltag im Speditionsgewerbe: Tagelöhner der Autobahn
       
       > Dreizehn Stunden auf Achse und unterm Strich knapp 7 Euro Stundenlohn:
       > ein Truckerleben. Drei Monate im Selbstversuch.
       
   IMG Bild: Schwerer Unfall auf der A 2 – alles steht, der Fahrtenschreiber läuft weiter. Neun Stunden darf ein Trucker hinterm Lenkrad sitzen.
       
       DÜSSELDORF/KÖLN/FRANKFURT taz | Hinterm Horizont geht es weiter. Oder auch
       nicht. Irgendwo gibt es immer einen Stau oder eine Baustelle, wo sich der
       Verkehr nur vorwärtsschleicht. Es ist drei Uhr in der Nacht und eigentlich
       müsste der Weg frei sein.
       
       Ich bin auf der A 61 unterwegs mit einem 40-Tonnen-Tanker. Um Mitternacht
       hat mein Kollege den Sattelzug bereits bei Henkel in Düsseldorf beladen. Es
       ist dickflüssiges Texapon, ein Grundstoff der Kosmetikindustrie, das
       äußerst lebendig im Tank hin und her schwankt, wenn ich nicht so ruhig
       fahre. Die Kurven bei der Einfahrt und Ausfahrt auf die Autobahn nehme ich
       mit 35 Stundenkilometern. Die Autofahrer hinter mir sind genervt. Aber wenn
       ich schneller fahre, trägt mich das Texapon aus der Kurve.
       
       Ich muss in Bonn über die Brücke. Und da ist schon die erste Baustelle. Die
       Brücke ist einspurig. Wenn ich jetzt nicht gut durchkomme, kann ich den
       Termin nicht einhalten. Um sechs Uhr soll ich in Flörsheim bei Win Cosmetic
       sein. Ich bin praktisch der mobile Außentank, der auf der Straße unterwegs
       ist und da sein muss, bevor die Produktion von beispielsweise Flüssigseifen
       beginnt. Gegen fünf Uhr und nach einigen engen Baustellen werden die Augen
       schwer und ich frage mich, warum ich das überhaupt mache.
       
       Der Termindruck für die Trucker ist enorm. Arbeitszeiten von 13 Stunden
       sind keine Seltenheit, sondern eher die Regel. Nicht nur hinter dem Steuer.
       Oft ist mit dem Job schwere körperliche Arbeit beim Be- und Entladen
       verbunden, bevor es wieder weitergeht. So habe ich mir das Truckerleben
       nicht vorgestellt. Aber ich wollte es wissen und habe mich drei Monate
       zuvor als Fernfahrer beworben. Die Lkw-Führerscheine der Klassen C/CE habe
       ich.
       
       Beim Straßenverkehrsamt musste ich lediglich eine Fahrerkarte beantragen.
       Auf dieser Karte wird während der Fahrt alles aufgezeichnet: Lenkzeiten,
       Arbeitszeiten, Ruhezeiten und Geschwindigkeitsübertretungen. Die Daten
       bleiben für 28 Tage gespeichert. Das heißt auch, dass ich bei einer
       Kontrolle für meine Geschwindigkeitsübertretung von vor zwanzig Tagen auch
       heute noch Bußgeld zahle.
       
       ## Tankcontainer für die Kosmetikindustrie
       
       Ich melde mich bei einem Spediteur in der Nähe meines Wohnorts. Er sucht
       einen Fahrer zur Aushilfe, rund zehn Tage im Monat. Das passt, denke ich.
       Ich treffe mich zwei Tage später mit ihm auf dem Betriebshof der Spedition
       Rinnen in Troisdorf. Es stellt sich heraus, dass er Subunternehmer ist.
       Pauschal zahlt er mir 90 Euro pro Tour. Ich soll Tankcontainer für die
       Kosmetikindustrie fahren.
       
       Die Woche drauf kommt mein erster Einsatz. Ich hole den Tankcontainer in
       der Nacht auf dem Betriebshof ab. Er ist schon vorgeladen und ich erledige
       die Abfahrtkontrolle. Es ist noch stockfinster. Ich leuchte mit der
       Taschenlampe Reifen, Befestigungen, Sitz der Schläuche ab. Ich habe nicht
       viel Zeit. Der Spediteur hat meine Lenk- und Pausenzeiten im Blick. Es sind
       neun Stunden, die ich gesetzlich hinter dem Steuer sitzen darf. Aber was
       ist mit der restlichen Arbeitszeit?
       
       Bei einer der nächsten Touren klingelt das Handy im Fahrerhaus. Der
       Disponent ist dran und dirigiert mich zum Firmensitz nach Moers um. „Du
       musst den Tank tauschen und dann kommst du zurück.“ Gut denke ich mir, dass
       ist etwa eine Stunde Fahrzeit mehr. Das klappt noch mit den Lenkzeiten.
       Allerdings sieht das bei der Arbeitszeit, durch Warten an der
       Entladestation, anders aus.
       
       ## Rangieren auf dem „Containerbahnhof“
       
       Seit etwas mehr als zwölf Stunden arbeite ich jetzt schon. In Moers erhalte
       ich von dem dortigen Disponenten neue Order. Ich muss zunächst den
       Tankcontainer tauschen, dann auf der Straße abstellen und anschließend den
       neuen Tank aufsatteln, wieder absatteln und das zuvor auf der Straße
       abgestellte Chassis mit Tank wieder aufsatteln. Alles klar? Die Fahrer auf
       dem Betriebshof lachen: „Na, hat dich der Containerbahnhof erwischt?“
       
       Das mehrfache Auf- und Absatteln nennen sie „Containerbahnhof“. Lustig
       finde ich das nicht. Ich bin durchgeschwitzt und müde. Als ich schließlich
       auf dem Betriebshof in Troisdorf wieder ankomme, bin ich vierzehn Stunden
       unterwegs gewesen und muss noch ein wenig Papiere machen, bevor ich in
       meinen Wagen steigen kann, um nach Hause zu fahren. In meiner Wohnung
       angekommen, bleiben mir noch drei Stunden Privatleben.
       
       Am nächsten Morgen muss ich wieder um zwei Uhr aus den Federn und daher
       lege ich mich früh ins Bett. Zugegeben, das ist ein Extremfall, aber in der
       Regel war ich bei meinen Aushilfsfahrten dreizehn Stunden unterwegs. Bin
       ich da auf den Mindestlohn gekommen? Eine einfache Rechnung: 90 Euro brutto
       geteilt durch 13 Stunden sind 6,92 Euro. Mindestlohn? Weit davon entfernt.
       
       ## Die Theorie vom Mindestlohn
       
       Was passiert, wenn ich am 1. Januar 2015 den Mindestlohn von 8,50 Euro die
       Stunde einfordere? Jürgen Helser ist Fachanwalt für Arbeitsrecht, er sagt:
       „Sie brauchen eigentlich nichts zu tun, da Paragraf 20 des
       Mindestlohngesetzes eine gesetzliche Zahlungspflicht als Anspruch vorsieht.
       Der Arbeitgeber müsste, streng genommen, selbst zum Stichtag auf Sie
       zukommen.“ So weit die Theorie. Wie singt Gunter Gabriel so schön: „Hey
       Boss, ich brauch mehr Geld?“ Nun kann der eine oder andere Fahrer
       vermutlich ein Lied davon singen, dass ein persönliches Gespräch mit dem
       Chef in dem Punkt wenig bringt.
       
       Auf unseren Straßen sind viele osteuropäische Fahrer unterwegs. Der
       Mindestlohn hat aber nichts mit der Staatsangehörigkeit des Fahrers zutun.
       Gewerkschaftssekretärin Sigrun Schmid, zuständig für den Fachbereich
       Spedition bei Verdi.: „Der Mindestlohn ist eine territoriale Regelung und
       gilt nicht nur für Deutsche.“ Damit spricht die Gewerkschaftssekretärin die
       sogenannte Kabotage an. Wenn also beispielsweise ein Unternehmen mit Sitz
       in Polen in Deutschland fährt, müssen auch die polnischen Fahrer den
       Mindestlohn erhalten.
       
       Aber hier werden schon die Schlupflöcher gesucht. Hinzu kommt die Frage der
       Kontrolle. Das Bundesamt für Güterverkehr, BAG, überprüft auf den
       Autobahnen die Fahrer bei Lenk- und Ruhezeiten. „Die Verstöße gegen die
       Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten liegen bei 18 Prozent“, sagt
       Hans-Gerhard Pernutz, Referatsleiter Straßenkontrollen beim BAG. Und es
       seien nicht die Osteuropäer, wie oft behauptet werde, die besonders
       auffallen bei den 560.000 Kontrollen pro Jahr.
       
       ## Kein Geld für Kontrollen
       
       Was dem Referatsleiter allerdings Sorgen bereite, sei die Zunahme der
       Manipulationen an den digitalen Aufzeichnungsgeräten in den Lkws. „Es ist
       aber nicht die Aufgabe des BAG, künftig auf die kompletten Arbeitszeiten
       der Fahrer zu achten.“ Dafür, dass der Mindestlohn aufgrund der
       Arbeitszeiten eingehalten wird, ist der Zoll zuständig. Die
       „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ soll diese Aufgabe zusätzlich übernehmen.
       Auf Nachfrage bei der Direktion West heißt es: „Dazu können wir im
       Augenblick überhaupt nichts sagen. Wir müssen uns da mit dem
       Bundesministerium für Finanzen abstimmen.“ Im Klartext: Ohne ein Budget und
       mehr Personal wird der Zoll die neue Aufgabe wohl nur schwer bewältigen
       können.
       
       Ich versuche es mit einer neuen Arbeitsstelle und heure bei der Spedition
       Gelhard an. Sie fährt unter anderem für den Paketdienst DHL. Ich soll am
       anderen Tag gleich um 20 Uhr da sein und einen nagelneuen Sattelzug
       übernehmen. Mit ihm muss ich nach Köln zur DHL-Verladestation. Es geht nach
       Raunheim, einem Drehkreuz in der Nähe des Frankfurter Flughafens. Dank
       meiner Navigation angekommen, muss ich rückwärts an die Rampe zwischen zwei
       andere Sattelzüge. Es ist ziemlich eng. Die Fahrer der beiden Züge haben
       sich in die Koje im Führerhaus gelegt.
       
       Ich setze dreimal rückwärts an und hab die Technik nicht so ganz raus.
       Gleich stapft der Lademeister raus und raunzt mich an: „Wenn du dass nicht
       packst, musst du einen Kollegen fahren lassen.“ Das geht zwar ein wenig
       gegen meine Fahrerehre, aber ich will nicht noch mehr Ärger. Ich wecke
       einen Kollegen im Truck nebenan. Der sieht mich verschlafen an, begreift
       aber die Situation und grinst: „Das erste Mal hier?“ Ich bejahe und es
       stellt sich heraus, dass es an dieser Stelle einen Trick gibt, um rückwärts
       an die Rampe zu fahren.
       
       ## „Opa Fritz“ kommt täglich aus München
       
       „Da kommt Opa Fritz,“ sagt er zu mir und deutet mit dem Kopf auf einen
       Truck, der gerade durch das Tor fährt. „Opa Fritz“ kommt täglich aus
       München, klärt mich der Kollege auf. Keiner wisse, wie alt er ist, aber er
       habe mit Sicherheit schon vor Jahren das Rentenalter erreicht. Er war immer
       Trucker und könne nicht aufhören. Ich vermute eher, dass das mit der
       geringen Rente zu tun hat. Das behalte ich aber für mich.
       
       Ich lege mich in die Koje, werde aber nach einer halben Stunde unsanft mit
       starkem Klopfen an der Tür geweckt. Es geht zurück nach Köln. Andere Fahrer
       mit Sattelzügen setzen zum Überholen an und kriechen an mir vorbei:
       Elefantenrennen. Mich erschreckt, dass der eine oder andere Fahrer dabei
       auf seinem Laptop einen Spielfilm sieht. Auch eine Möglichkeit, sich wach
       zu halten, denke ich. Über die Gefahr dabei will ich nicht nachdenken.
       Schließlich bin ich um 5.30 Uhr wieder zu Hause. Gerädert, mit roten Augen.
       Wie soll ich jetzt schlafen? Verdient habe ich wieder nur 90 Euro brutto.
       Trucker-Romantik ade.
       
       5 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Mülfarth
       
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