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       # taz.de -- Libanon und der Krieg in Syrien: Wenn nicht wir, wer dann?
       
       > Das nordlibanesische Tripoli gilt als Extremistenhochburg. Doch viele
       > junge Libanesen wollen damit nichts zu tun haben.
       
   IMG Bild: Die Menschen in Tripoli versuchen, ihren Alltag aufrechtzuerhalten.
       
       TRIPOLI taz | Wissal Chaaban presst verärgert die Lippen aufeinander, als
       sie durch die Windschutzscheibe auf den Himmel blickt. Düstere Wolken
       türmen sich über dem Meer zu ihrer linken Seite auf. Es sieht nach Regen
       aus. Kein geeigneter Tag für eine Tour durch Tripoli, die Heimatstadt der
       21-jährigen Marketingstudentin.
       
       Rechts und links der Straße preisen Schilder Tripoli als „Stadt des
       Friedens“ oder verkünden „Einheit und Brüderlichkeit“. Die Slogans
       richteten sich nicht an die Einheimischen, sondern an auswärtige Besucher,
       erklärt Wissal achselzuckend. „Meine Freunde aus Amerika oder Europa haben
       Angst, mich zu besuchen. Sie denken, die Terroristen des IS (Islamischer
       Staat) würden sie vom Platz weg kidnappen.“
       
       In den letzten Monaten machte die Hafenstadt Tripoli im Norden des Libanons
       immer wieder durch negative Schlagzeilen von sich reden: Bombenexplosionen
       vor Moscheen, Kämpfe zwischen Sunniten und Alawiten und im letzten Monat
       die Attacke mutmaßlicher IS-Sympathisanten auf das libanesische Militär in
       der Altstadt. Die Grenze zu Syrien ist nicht weit. „Glaubt man den Medien,
       ist in Tripoli die Hölle ausgebrochen“, sagt Wissal. „Aber die meisten
       Menschen leben hier friedlich miteinander.“
       
       Dann erreicht sie die Autoschlange vor einem rot-weiß-gestreiften
       Kontrollpunkt der libanesischen Armee. Davon gibt es in Tripoli mehrere.
       Für junge Libanesen nichts Ungewöhnliches. Dennoch rutscht Wissal Chaadan
       unruhig auf dem Sitz hin und her. Sie beobachtet die Fahrer in den anderen
       Autos. „Ich weiß nicht, ob ich bei den Soldaten sicher oder in Gefahr bin.“
       
       Mehrere Selbstmordattentäter sprengten sich in den letzten zwei Jahren vor
       allem an Checkpoints in die Luft. Als sie endlich an der Reihe ist,
       reagiert Wissal routiniert: Fenster runterkurbeln, lächeln, grüßen: „Möge
       Gott dich schützen.“ Die Miene des Soldaten hellt sich auf. Er strahlt die
       junge Frau mit der Kurzhaarfrisur und dem lässigen Blazer an und winkt sie
       durch. Die junge Frau gibt erleichtert Gas.
       
       ## Heile Parallelwelt
       
       Familie Chaaban wohnt in Mina, einem Viertel an der Mittelmeerküste. Sie
       sind Sunniten. Wissal sagt, dass Mina nicht wie der Rest von Tripoli sei,
       sondern eine kleine heile Parallelwelt. Dort gibt es keine Extremisten.
       Dort leben Muslime, Christen und Libanesen anderer Konfessionen friedlich
       miteinander. Dort treffen sich die jungen Tripolitaner in den zahlreichen
       Pubs in der Mono-Straße. Erst gestern hat Wissal bis in die Nacht in der
       Bar „Beit el Nessim“ gefeiert.
       
       Vor dem Lokal ist sie jetzt mit ihrer Schwester verabredet. Mit eiligen
       Schritten stapft sie durch die Mono-Straße an kleinen französischen Villen
       und Schawarma-Läden vorbei, biegt in eine Gasse ab. Hayat wartet bereits,
       ein großes schlankes Mädchen, das schwarze Leggings und einen langen
       Pferdeschwanz trägt.
       
       Hayat Chaaban ist 18 und eine von wenigen Graffiti-Künstlerinnen in der
       Stadt. Es ist nicht gefährlich für sie, in Tripoli zu sprühen. Aber nicht
       üblich, zumindest als Frau. Hayats Markenzeichen ist die arabische
       Kalligrafie, und ihr erstes Graffiti bedeutete das Wort „Salam“ – auf
       Deutsch: Frieden. All ihre Arbeiten bezögen sich auf die Situation in
       Tripoli, sagt Hayat.
       
       Die Schwestern fahren Richtung Stadtzentrum, um Hayats neuestes Kunstwerk
       zu zeigen. Es ist ein Auge, das von zwei Händen brutal aufgerissen wird.
       
       Die Idee dazu hat sie seit dem letzten Jahr mit sich herumgetragen, als
       zwischen Sunniten und Alawiten in den Vierteln Bab al-Tabbaneh und Jabbal
       Mohsen Kämpfe ausgebrochen waren und die ganze Stadt in Atem hielten. „Die
       Libanesen bekämpfen sich wegen Syrien, wegen der ganz großen Politik“, sagt
       Wissal, „das hat mit uns nichts zu tun. Tripoli sei seit Ausbruch des
       Syrienkriegs vom gleichen Virus infiziert.
       
       Die Fronten zwischen Sunniten und Alawiten im Libanon sind verhärtet, sie
       bekämpfen sich in derselben Konstellation wie im Nachbarland. „Passiert
       etwas in Syrien, reagieren die verfeindeten Lager in Tripoli und schmeißen
       Bomben oder schießen aufeinander“, erklärt Wissal kopfschüttelnd. Ihre
       Schwester setzt hinzu: „Man muss den Menschen zeigen, dass das, was in
       Syrien passiert, kein Grund ist, hier zu kämpfen.“
       
       ## „Mama, uns geht es gut“
       
       Wissals Handy klingelt: „Ja, Mama, uns geht es gut. Wir kommen bald nach
       Hause. Yalla, bye.“ Wissal legt auf. Jedes Mal, wenn die Schwestern für
       längere Zeit aus dem Haus sind, beginnen die Kontrollanrufe der besorgten
       Mutter. Keiner weiß zu sagen, wann und wo die nächsten Kämpfe oder
       Anschläge passieren. Die Situation kann sich in Sekundenschnelle ändern.
       Das wissen die Mütter, Väter, Töchter und Söhne der Stadt. „Wenn ich
       schwarzen Rauch sehe oder Gewehrschüsse höre, rase ich wie eine Irre nach
       Hause. Meine Eltern sollen niemals um mich weinen müssen“, sagt Wissal.
       
       Eine normale Jugend in Tripoli zu verleben, ist nicht möglich. Manchmal
       platzt Wissal Chabaan der Kragen. Dann möchte sie ganz weit weggehen,
       irgendwo ganz neu anfangen. Hayat möchte bleiben, egal was kommen wird.
       „Wenn alle das Land verlassen, wer steht dann für den Wandel? Wenn nicht
       wir, wer dann?“ Plötzlich steigt Wissal auf die Bremse. Straßensperre. Ein
       Polizist gibt ihr ein Zeichen umzudrehen. „Leh? Warum?“, fragt sie. Keine
       Antwort.
       
       Ein Moment der Ungewissheit, der erst vorübergeht, als aus der Ferne die
       Umrisse zweier Motorräder mit Polizisten näher kommen, die eine lächelnde
       Fahrradfahrerin flankieren. Die Stadt Tripoli, in der für die Außenwelt nur
       Gewalt und Terror herrschen, veranstaltet an diesem Wochenende ein
       Radrennen.
       
       ## Gute und schlechte Scheichs
       
       Die Radfahrer müssen sich sputen, Regen setzt ein. Dicke Tropfen prasseln
       auf die Windschutzscheibe von Wissals Auto. Können sich die Schwestern
       eigentlich erklären, warum Gleichaltrige in ihrer Stadt zu Extremisten
       werden? Als Wissal antwortet, überschlägt sich ihre Stimme fast: „Wir haben
       Salafistenscheichs, die sind gut, andere nicht. Die schlechten trennen
       Politik nicht von Religion. Sie predigen über die Welt nur in schwarz und
       weiß. Das glauben dann viele junge Menschen, die nicht gelernt haben, so
       etwas zu hinterfragen.“
       
       Wissal war schockiert, als sie in den Nachrichten zum ersten Mal Männer aus
       Tripoli mit den schwarzen IS-Fahnen sah. Das ist nicht meine Stadt, dachte
       sie. Wieder bimmelt ihr Handy. Nun müssen sie dringend nach Hause, meinen
       die Schwestern, damit ihre Mutter sich nicht länger Sorgen machen müsse.
       
       Im Fastfoodrestaurant „B to B“ bestellt sich Hassan einen Tee zum
       Aufwärmen. Der 28-Jährige ist ein Freund von Wissal und Hayat. Die jungen,
       weltoffenen Tripolitaner vernetzen sich, um gehört zu werden. Deshalb ist
       Hassan, der viel über Politik weiß, Mitglied der Initiative „We love
       Tripoli“.
       
       Sie veranstalten Kinoabende, Radtouren und Fotosafaris in der Stadt. Nach
       den Attentaten auf zwei Moscheen und einem Brandanschlag auf die Bibliothek
       eines griechisch-orthodoxen Priesters waren sie auch zur Stelle und räumten
       Trümmer beiseite. Jeder kann mitmachen, unter zwei Bedingungen: „Keine
       Religion, keine Politik“, sagt Hassan streng.
       
       ## Zu viel Hysterie
       
       Hassan wärmt seine Finger am Teebecher. Er weiß, dass es unrealistisch ist,
       zu glauben, dass die Extremisten von heute auf morgen aus Tripoli
       verschwinden würden. Er selber kannte einen jungen Mann aus Bab
       al-Tabbaneh, der immer radikaler wurde. „Ich bin mit ihm zur Schule
       gegangen, später zur Uni. Er war ein kluger und ehrgeiziger Student.
       
       Dann wurde sein Bruder, ein Soldat, getötet. Er schmiss das Studium und
       verkaufte von da an Kaffee, um seine Familie zu versorgen.“ Vor ein paar
       Wochen hat Hassan auf Facebook gelesen, dass sein ehemaliger Kommilitone
       als IS-Kämpfer in Kobani gefallen ist. Die Geschichte dieses jungen Mannes
       kennt mittlerweile jeder in Tripoli.
       
       Hassan schüttelt den Kopf. Er findet die IS-Hysterie übertrieben. Einige
       Tripolitaner würden vielleicht mit dieser Ideologie sympathisieren, aber
       meist seien es Geldprobleme, die Menschen zu Terroristen machten, wie im
       Falle des getöteten Libanesen in Kobani.
       
       Aufbruch vom „B to B“, nach zehn Minuten Fußweg steht Hassan auf dem Sahet
       al-Nour, dem Platz des Lichts. Es ist ein einfacher Kreisverkehr, in dessen
       Mitte auf einem Hügel in arabischen Buchstaben das Wort Allah steht.
       Daneben wehen schwarze Flaggen, auf denen das islamische Glaubensbekenntnis
       abgedruckt ist. Hassan schmunzelt. „Besucher sehen die Fahnen und denken,
       Tripoli würde vom IS regiert.“
       
       ## Schwarze Fahnen
       
       Ein naheliegender Irrtum, denn die Islamisten halten ähnliche schwarze
       Banner hoch. „Das Glaubensbekenntnis steht für den Islam an sich und nicht
       für irgendeine Terrororganisation, die es missbraucht“, stellt Hassan klar.
       Er hofft, dass die Leute lernen, solche Dinge in Zukunft zu differenzieren.
       Denn Vorurteile und Missverständnisse dieser Art machen es den jungen
       Tripolitanern unnötig schwer, wollen sie ihre Stadt doch rehabilitieren.
       
       Eine junge Frau mit langen, lockigen Haaren winkt Hassan zu. Sie wartet am
       Busbahnhof neben dem Kreisverkehr auf die letzte Verbindung des Tages nach
       Beirut. Fadwa studiert Schulmanagement in der 80 Kilometer entfernten
       Hauptstadt. Hassan hilft ihr zwei dicke Koffer in den Bus zu laden.
       „Winterklamotten“, lacht sie entschuldigend.
       
       Später im Bus, lange nachdem die letzten Lichter von Tripoli in der Ferne
       verschwunden sind, sagt Fadwa nachdenklich: „Ich liebe Tripoli. Aber die
       Stadt ist von Gewalt und Hass infiziert, und wir wissen nicht, was es
       ausgelöst hat. Wenn mich das eines Tages umbringt, dann ist das so. Wenn
       nicht, geht es wohl irgendwie weiter.“
       
       3 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juliane Metzker
       
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